Nein, das Sächsische ist kein Selbstläufer. Während andere Bundesbürger mit ungebrochener Selbstverständlichkeit ihren Dialekt sprechen, ist er in Sachsen am Verschwinden, sagen Eltern ihren Kinder lieber: „Sprich richtig Hochdeutsch!“ Und meinen es auch gut. Oft genug nicht ahnend, dass damit auch ein Stück Seele verloren geht. Und ein Stück wirklich guter Literatur. Die herrlichen Mundarttexte von Lene Voigt zum Beispiel. Um die ging es am Dienstag, 28. Mai, wieder im Kabarett Sanftwut.
Dorthin hatte die Lene-Voigt-Gesellschaft eingeladen zum schönsten aller Wettbewerbe, den um das Gaggaudebbchen. Das gibt es als Preis für die schönsten Beiträge im Vortragswettbewerb, bei dem Kinder und Jugendliche auf der Bühne zeigen, wie viel Leben, Freude und Abbelguchen in den Gedichten und Prosatexten der Leipziger Dichterin Lene Voigt stecken. In Texten, die ihren besonderen Leipziger Humor im Grunde erst richtig entfalten, weil sie im Leipziger Dialekt geschrieben sind, im Südwestosterländischen, wie es die Sprachforscher nennen.
Und wer ein Gehör hat, weiß, wie sehr sich dieser Dialekt vom Polizeisächsisch unterscheidet, das vielen Bundesbürgern aus tristen alten Zeiten noch im Ohr ist. Aber er unterscheidet sich auch vom Vorerzgebirgischen, das in Chemnitz gesprochen wird, und auch vom Ostmeißnischen, das in Dresden die Straßen beherrscht.
Und wer es nicht glaubte, hätte am Dienstag echte Muttersprachler fragen können, ob das wirklich so ist. Und sie bestätigten: Es ist so. Es ist nicht einfach, mit Dresdner Zunge den osterländischen Zungenschlag aus Leipzig hinzubekommen. Aber man kann. Das bewiesen diesmal fünf spannende Gäste von der 62. Oberschule in Dresden, womit Dresden zum ersten Mal beim Wettbewerb um das Gaggaudebbchen vertreten war.
Aber dass sich dieser Wettbewerb so weit herumgesprochen hat, ist kein Selbstläufer. Dafür müssen die Mitstreiter um Klaus Petermann, den Vorsitzenden der Lene-Voigt-Gesellschaft, richtig arbeiten, Kontakte knüpfen, über Lehrer/-innen und Eltern versuchen, in Sachsens Schulen Gehör zu finden. Wo es Lehrerinnen (es sind wirklich bislang nur Lehrerinnen) gibt, die ihre Faszination für die Texte Lene Voigts entdeckt haben, kommt meist auch ein richtiger Kurs zustande, indem die Schüler und Schülerinnen nicht nur die kleinen Texte auswendig lernen, sondern auch gleich noch üben, sie wirklich wirkungsvoll vorzutragen.
Denn es sind ja kleine dramatische Szenen, egal, ob es um die kleine hinsterbende Gogosbalme geht, die vehemente Anklage an Minnan oder die gründlich umgekrempelte Schiller-Ballade „Dr Handschuhk“. Man konnte es ja schon im Wettbewerb um die Gaffeeganne zuletzt beobachten, wie selbst ausgewachsene Menschen da auf einmal lebendig wurden und in die buntesten Kostüme schlüpften, um diese Texte richtig zum Zünden zu bringen. Manche so vom Lampenfieber geplagt, dass sie sich in den Texten verhaspelten.
Den Wettbewerb um die Gaffeeganne hat die Gesellschaft erst einmal auf Eis gelegt. Aber das „Gaggaudebbchen“ funktioniert ja auch etwas anders. Es ist der Türöffner, mit dem die Gesellschaft den liebenswerten Dialekt wieder in die Schulen bringen will, zu den Lehrern, die oft gar nicht mehr wissen, was noch Goethe wusste.
Den zitierte Klaus Petermann diesmal gleich mal zur Einstimmung. Denn darum geht es: „Jede Provinz liebt ihren Dialekt, denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seelen ihren Atem schöpfen.“
Das muss irgendwo in „Dichtung und Wahrheit“ stehen.
Und so mancher junge Mensch entdeckt beim „Gaggaudebbchen“ tatsächlich, wie viel Element in den Texten von Lene Voigt steckt, nebst Ironie, ein bisschen Schadenfreude, einer Menge Mitgefühl und einer unerschütterlichen Lust, sich auch mal selbst so richtig auf den Arm zu nehmen. Eine wie Lisa Behr zum Beispiel zeigt das, die nun schon seit einigen Jahren immer wieder gern auftritt und die ausgewählten Texte mittlerweile mit so viel Souveränität vorträgt, dass die Jury schon gar nicht mehr weiß, wie man so viel fröhliche Gelassenheit auch noch belohnen soll, denn das Gaggaudebbchen hat Lisa schon drei Mal gewonnen. Was tun?
Ein Trostpreis musste her: „Das kleine Lene Voigt Buch“. Das sie zwar schon hat, aber die Gymnasiastin vom LOP nahm es souverän. Dabei sein ist alles. Das LOP: Das ist das Louise-Otto-Perters-Gymnasium im Leipziger Süden, das seit ein paar Jahren stets dabei ist, wenn es um das Gaggaudebbchen geht, genauso wie die Lene-Voigt-Schule, die ja nicht ohne Grund so heißt.
Dafür bekam die kleine Leni Behr, die noch die Grundschule in Markkleeberg besucht, diesmal ein Gaggaudebbchen für ihre wirklich liebevoll gestaltete Suche nach den Ostereiern, die der Großvater versteckt hat. Oder eben leider auch nicht. Es sind ja die ganz kleinen menschlichen Fehler und Vergesslichkeiten, die wir alle kennen, auch wenn wir uns um so viel moderner und klüger wähnen als die Menschen vor 100 Jahren, die in Lene Voigts Gedichten mit ein paar Federstrichen sichtbar werden.
Aber es war nicht das einzige Gaggaudebbchen des Tages. Denn wer sich wie die Lene-Voigt-Gesellschaft bemüht, die Kinder zu Höchstleistungen anzuspornen, der hat am Ende eine Jury, die richtig ins Schwitzen kommt: Wer von den vielen umwerfenden kleinen Künstlern bekommt nun DAS Gaggaudebbchen? Oder bestellt man in der Keramikwerkstatt in der Georg-Schumann-Straße doch lieber mehrere dieser herrlich bunten Keramikbecher, um auch für das Überraschendste gewappnet zu sein? Zum Beispiel für den Fall, dass gleich zwei Vorträge das Publikum von den Stühlen pusten? Oder gar drei? Oder vier?
Eigentlich waren es fünf. Denn dass sich mit Tobias Hase wieder ein Kita-Knirps auf die Bühne wagte, erwärmte nicht nur den Juroren das Herz. Seine „Gogosbalme“ war am Ende einen Sonder-Kakaobecher wert. Und Sieger gab es gleich drei – eigentlich vier, die so bescheidene Lisa Behr mitgerechnet.
Deswegen gab es gleich zwei Gaggaudebbchen quasi für die Zweitplatzierten, die bei früheren Wettbewerben einsame Sieger gewesen wären – für Leni Behr, wie erwähnt, und für einen der Gäste aus Dresden: Alejandro Verduga Alonso, der – kurzbehost – eine umwerfend emotionale Rede an die vermaledeite Minna hielt. Textsicher natürlich. Auch das so ein Kriterium. Denn diesmal war die Konkurrenz so stark, dass Verhaspler und Steckenbleiben tatsächlich die Punkte kosteten, um in die engere Wahl zu kommen.
Was durchaus schade war – etwa für Tim Humpert, der sich nicht nur extra einen Elbdampfer baute, um stilgerecht auf die Bühne zu gehen. Er wählte auch noch den bekanntesten Text Lene Voigts aus der Dresdener Nahzone: „De säk’sche Loreley“. Er stürmte los, er war grandios. Aber als dann den Papa im kleinen Schiffe das wilde Weh ergriff, ging auch Tim baden. Lene Voigts Texte sind gefährlich. Sie haben Tücken und Stromschnellen und unverhoffte Windungen, meist genau da, wo die nächste Pointe hinter der nächsten Flussbiegung lauert.
Was erfahrene Voigt-Vorträger wissen. Man muss hineinschlüpfen in diese Texte und wissen, wie dieser hintersinnige Humor funktioniert und wie einen die Dichterin schelmisch von der Seite anrempelt, wenn sie wieder so eine Stelle untergebracht hat. Wer nicht damit rechnet, ist erschrocken und verliert den Faden. Es hilft nichts: Man muss wirklich zum richtigen Sachsen mit Mutterwitz werden. Dann machen nicht nur Lenes Balladen richtig Freude, dann schnurren selbst ihre Märchen, in denen sie auch die Grimms gegen den Strich bürstet.
Und das war dann auch das Aha-Erlebnis der Jury an diesem Abend. Mit Ronja Irmer war auch eine kesse Rotkäppchen-Darstellerin aus Dresden gekommen, die regelrecht ihre Freude daran hatte, da oben auf der Bühne den Wolf zu erledigen und dem Publikum klarzumachen, dass sich alleinlaufende Mädchen auf finsteren Wegen lieber nicht von Fremden anquatschen lassen sollten.
Dafür gab es dann das Super-Gaggaudebbchen. Vielleicht auch aus Wehmut, denn selbst in der Jury spürte man wohl: Dieses Dresdner Rotkäppchen war so eins und ganz mit dem Text, dass nichts mehr dazwischen passte. Eine souveräne kleine Person, die sich die Bäbe nicht aus dem Korb mausen lässt. Vielleicht sehen wir sie wieder, wenn der so wertvolle Draht nach Dresden nicht abreißt.
In Leipzig, so Klaus Petermann, tun sich Lehrer und Direktoren schwer. Man versuche deshalb als Gesellschaft, wenigstens die Eltern anzustupsen, damit sie in den Schulen werben für Lene Voigt und diesen Wettbewerb. Denn was soll aus den Kindern werden, wenn sie in der Schule nicht mal ihrem heimatlichen Dialekt begegnen, keine Erfahrungen machen mit der Mundart ihrer Großeltern?
Na gut: Kess und selbstbewusst werden sie auch so. Dafür steht auch Annalea Hummel, die in Leipzig noch das Gymnasium besucht, aber längst schon mit eigenen Songs Wettbewerbe gewinnt und Preise einheimst. Sie war der Stargast an diesem Abend und zeigte, dass man sich um unverwechselbare Stimmen aus Leipzig nicht sorgen muss.
Neue Texte von Lene Voigt
Und dann gab’s noch eine kleine Neuentdeckung zu feiern. Lene-Voigt-Freunde wissen, was das bedeutet: Sie hat ihre Texte ja in Zeitungen und Magazinen in ganz Deutschland veröffentlicht, so viel, dass man bei aufmerksamer Suche immer neue Texte findet. Und so war es auch diesmal, als ein Lehrer aus Braunschweig sich meldete, der eigentlich die Zeitungen der Weimarer Zeit vor allem nach Texten von Tucholsky und Kästner durchforscht und dabei auch über viele Texte von Lene Voigt stolperte. Das ist nun mal ihre Liga: Kästner, Tucholsky, Voigt. Das Ergebnis waren 28 bisher unbekannte Texte der Leipziger Nachtigall.
Die wurden jetzt in einer neuen Publikation der Lene-Voigt-Gesellschaft veröffentlicht: „De Babbierdande“.
Drin stehen 28 Texte, die Lene Voigt zwischen 1926 und 1932 in verschiedenen Zeitschriften, vorwiegend in der in Prag erscheinenden deutschen Zeitung „Bohemia“, veröffentlichte. Es sind Gedichte und Geschichten, allesamt humoristischfeuilletonistische Einlassungen auf die damalige Alltagswelt. Man erfährt von „Skribinophan“, dem Elixier der Schriftsteller, findet Schulaufsätze von Fritzchen Schlau, hört von Leipziger TreppenhausPhilosophien, begegnet Oma Schmid und Herrn Pietsch, unternimmt eine Reise an die Weser und erfährt, wer sich hinter Lenes „Babbierdande“ verbirgt. Sächsischer Humor vom Feinsten.
„De Babbierdande“, Herausgegeben von Klaus Petermann, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Klappenbroschur in kleiner Auflage. Mit aufgeklebtem Umschlagschildchen. Erschienen in der von Wolfgang U. Schütte begründeten Reihe „Fundsachen“, ISBN 9783937799926, 48 Seiten, Leipzig 2019, 12 Euro
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