Es hat ein Jahr lรคnger gebraucht als geplant, sonst hรคtte der Einweihungstermin an der Nรผrnberger Straรe/Ecke Brรผderstraรe schon vor einem Jahr stattfinden kรถnnen, direkt zum 200. Geburtstag von Karl Marx, der zwar nur ab und zu mal in Leipzig weilte, dessen wichtigstes Werk aber, โDas Kapitalโ in Leipzig gedruckt wurde. Und so fand ein herrlich streitbarer Termin zur Skulpturenthรผllung am Montag, 13. Mai statt.
Kulturbรผrgermeisterin Dr. Skadi Jennicke รผbergab an dem Gebรคude, das heute am ehemaligen Standort der Druckerei von Guido Albert Reusche in der Brรผderstraรe 26-28 steht, das herrlich zum Grรผbeln anregende Kunstobjekt zur Erinnerung an den Druck der Erstausgabe โDas Kapitalโ von Karl Marx in Leipzig. Das Gebรคude ist heute eine Unterkunft des Studentenwerks Leipzig, aber die Besitzverhรคltnisse entpuppten sich 2018 dann doch als etwas komplizierter, sodass es etwas lรคnger dauerte, die Genehmigung des Eigentรผmers zu bekommen und die Skulptur quasi direkt um die Ecke vom โSTUKโ anzubringen, nicht gleich fรผr jedermann sichtbar.
Man muss schon in der Ecke unterwegs sein, um jetzt โ mit Blick nach oben โ einen groรen Stapel Bรผcher zu sehen, aus dem drei Bรคnde seitlich herausragen, sodass man beinah fรผrchten muss, gleich kippt der Stapel um. Ein hรถchst besorgniserregendes Gleichgewicht.
Grรถรe und Lage der vorgesehenen Fassadenflรคche und die gewรผnschte Fernwirkung berรผcksichtigend, schuf der Leipziger Kรผnstler Philipp Fritzsche ein Kunstobjekt aus Edelstahl. Und das gefรคhrdete Gleichgewicht in seinem Bรผcherstapel war beabsichtigt. Damit nahm er direkt die Intentionen auf, die auch im Kulturausschuss des Stadtrats 2017 durchgefochten wurden, als รผber den Antrag der Linksfraktion diskutiert wurde, zum 150. Jahrestag des Erscheinens des โKapitalโ, Band 1, eine weitere Erinnerungsstelle zu schaffen.
Eine erste gibt es ja schon am Roรplatz. Dort wird seit Jahren schon mit einer Tafel an den Erstdruck des โKapitalโ, Band 1, in der dort einst ansรคssigen Druckerei von Otto Wigand erinnert. Der eigentliche Verlag Otto Meissner saร in Hamburg. Aber Hamburg war drucktechnisch augenscheinlich nicht in der Lage so ein Mammutbuch in kurzer Frist zu drucken, deswegen wandte sich Otto Meissner nach Leipzig, wo sich 1867 auch die Druckereien ballten, die technisch in der Lage waren, den Bleisatz fรผr ein erst auf 400 Seiten konzipiertes Werk herzustellen, das sich dann am Ende als 800-seitiger Kracher entpuppte, den Meissner in einer 1.000er-Auflage drucken lieร.
Und das, wie die Zuhรถrenden an diesem noch etwas kรผhlen 13. Mai erfuhren, in einem fรผr heutige Fรคlle atemberaubend aufwendigen Prozess. Denn fรผr die 800 Seiten waren vier Setzer mehrere Monate tรคtig und hatten am Ende mehrere Zentner Blei fรผr ein auch fรผr damalige Verhรคltnisse sehr eng gedrucktes Buch gesetzt. Karl Marx, dessen Handschrift wohl sprichwรถrtlich unlesbar war, hatte sich vรถllig verschรคtzt. Und Wigand war klug genug, dem Autor, der sich ja auch beim Gesamtumfang fรผr sein โKapitalโ vรถllig verschรคtze, nur die ersten Abzรผge zur Korrektur zu schicken. So konnte Marx das Werk nicht noch weiter anschwellen lassen. Es ging zwar mit einigen Satzfehlern in Druck, aber die wurden mit der zweiten, verbesserten Auflage 1872 dann ausgemerzt.
Der Druckvorgang selbst war zwar schon ein Stรผck weit mit Dampfmaschinen automatisiert. Aber gesetzt wurde alles noch von Hand, die berรผhmte Setzmaschine Linotype, die heute im Museum fรผr Druckkunst zu besichtigen ist, gab es noch nicht. Setzen war noch echtes Hand-Werk.
Auch daran erinnert die neue Skulptur, die auch Skadi Jennicke nicht allein als ein sichtbar werdender Punkt in der Leipziger Erinnerungskulisse zu Karl Marx versteht, sondern auch als eine Erinnerung an die Buchstadt Leipzig.
Denn auch als Friedrich Engels nach dem Tod von Karl Marx im Jahr 1883 den zweiten Band des โKapitalโ aus diversen zerstreuten Texten zusammenstellte, wandte er sich wieder an Otto Meissner, der den Band 1885 dann auch an eine Leipziger Druckerei gab. Diesmal an die von Guido Albert Reusche in der Brรผderstraรe 26-28.
Im Juli 1885 wurde in der Druckerei Reusche im Parterre des Hintergebรคudes dann der zweite Band von Karl Marxโ Werk โDas Kapital. Kritik der politischen Oekonomieโ gedruckt. Alle Ausgaben des โKapitalsโ, die zu Lebzeiten von Marx und Engels in deutscher Sprache erschienen sind, wurden an mehreren Orten in Leipzig gedruckt, betont Skadi Jennicke.
Und auch wenn man das heute nicht mehr so empfindet, gehรถrte auch die Brรผderstraรe 1885 zum Grafischen Viertel. Das Adressbuch weist eine noch viel berรผhmtere Firma als Besitzer der Brรผderstraรe 26-28 aus: die Schriftgieรerei Schelter & Giesecke. Und Reusche war auch nicht der einzige Buchdrucker im Haus. Nebenan arbeiteten noch die Buchdruckerei Grimme und Trรถmel und der Steindrucker Hermann Arnold.
Und auch an anderen Adressen in der Brรผderstraรe wurde gesetzt, gedruckt und verlegt.
Und dieser Gedanke war es auch, der den Stadtrat im Oktober 2017 bewog, dem Antrag der Linken zuzustimmen und auch den Gedanken unterstรผtzte, fรผr diesen Erinnerungsort einen Spendenaufruf zu starten, den auch die CDU unterstรผtzte. Der Spendenaufruf zur Finanzierung erbrachte 5.564 Euro, mit denen das Projekt realisiert werden konnte.
Warum auch die CDU fรผr die Spendensammlung warb, erklรคrte am Montag CDU-Stadtrat Michael Weickert, der gerade die Debatte im Kulturausschuss als wichtige demokratische Auseinandersetzung empfand, wie sie gerade heute wieder an Bedeutung gewinnt. Auch weil wieder das Thema Vergesellschaftung und Enteignung im Raum stehe, also doch irgendwie marxsche Themen, und auch eine soziale Marktwirtschaft sich immer wieder vergewissern mรผsse, wo sie stehe. Wobei er Marx eher fรผr Geschichte hรคlt, seit 1949 habe unsere Demokratie ja wohl รผberzeugende Lรถsungen fรผr die sozialen Fragen gefunden, die Karl Marx aufgeworfen hรคtte.
Eine Haltung, in der ihm Linke-Stadtrat Marco Gรถtze in einem Punkt widersprach: Er hรคlt โDas Kapitalโ nicht fรผr erledigt sondern nach wie vor fรผr ein Buch mit wichtigen Anregungen. Auch wenn einem die Marxโsche Art รผber Mehrwert und Entfremdung zu denken heute eher fremd vorkommen mag.
Und fรผr all das, was nach 1883 geschah, sei Karl Marx ja nun wirklich nicht in Haftung zu nehmen, so wenig wie Luther fรผr all das, was nach dessen Tod in seinem Namen geschah.
Die Inschrift am Fuร der Bรผcherskulptur lautet nun:
Druck des โKapitalsโ Band II
von Karl Marx im Jahr 1885
an diesem Ort bei Reusche
Stadt Leipzig 2018
Das ist so knapp, dass der Betrachter natรผrlich gezwungen ist, รผber den gefรคhrdeten Turm aus Bรผchern nachzudenken, mit dem Philipp Fritzsche dann den kleinen Wettbewerb fรผr sich entschied. Denn die gesammelten 5.564 Euro ermรถglichten ja in diesem Fall, etwas mehr draus zu machen als nur eine Tafel, wie Skadi Jennicke betonte. Philipp Fritzsche hatte seit 2001 an der Burg Giebichenstein in Halle studiert, war Meisterschรผler bei Prof. Ute Pleuger und hat seit 2003 sein Atelier in der โSpinnereiโ in Leipzig.
Wie viel Nachdenken รผber die Gefรคhrdungen unserer Gesellschaft in dem Bรผcherstapel stecken, beschrieb er in seiner Ideenskizze: โEin Stapel von Bรผchern rankt auf einem Podest an der Fassade des heutigen Studentenwerks in der Brรผderstraรe 26-28 und dem ehemaligen Standort der Druckerei von Guido Albert Reusche in die Hรถhe. Drei Bรผcher des Turmes sind nach links gerรผckt und prรคgen/beherrschen das Gesamtbild der Edelstahlskulptur. Sie stehen fรผr die drei marxschen Bรคnde (alle in Leipzig gedruckt), wรคhrend der II. Band hier an diesem Ort am weitesten hervorragt.โ
Das โnach links gerรผcktโ soll ins Auge fallen, denn โ wie auch Weickert betonte: Auch wer schreibt, trรคgt Verantwortung. Jedenfalls fรผr das, was er schreibt und wie er schreibt. Und politische Schriften haben Folgen. Und natรผrlich haben sich die Staatslenker in Ostdeutschland und den anderen โsozialistischenโ Staaten immer auf Karl Marx berufen, auch wenn das, was sie draus gemacht haben, mit Marx eher nichts zu tun hatte. Aber natรผrlich hatte es mit der Systemfrage zu tun, die Marx stellte und die auch heute noch emsige Graffiti-Kรผnstler an Leipziger Hauswรคnden stellen โ in diesem Fall auch direkt unter der โKapitalโ-Skulptur.
Und wer Systemfragen stellt, muss damit rechnen, dass einige Leute darauf radikale Antworten fordern oder auch geben. Folgen daraus direkt die Verbrechen des Stalinismus?
Das muss man mitdenken. Wer so radikale Antworten gibt, dass eine Diskussion nicht mehr mรถglich ist, bringt ein labiles Gleichgewicht aus dem Lot.
Das zeigt dieser Bรผcherstapel ja sehr anschaulich.
โMit den verschiedenen Grรถรen der Bรผcher werden die Lebendigkeit und das Individuelle einer Gesellschaft angesprochen, in der es viele Geschichten mit unterschiedlicher Geschichte gibt. Eine besondere, die in drei Bรคnden gefasst und Gesellschaft und Ideologien geprรคgt hat, wird hier symbolhaft hervorgehoben und stellt den oben Aufgelegten die โBalancefrageโ โฆโ, so Philipp Fritzsche, der seit 2014 auch Kurator fรผr Kunstprojekte und Mitglied im Sachverstรคndigen Forum fรผr Kunst im รถffentlichen Raum der Stadt Leipzig ist.
Er selbst ist schon mit mehreren plastischen Arbeiten im รถffentlichen Raum verschiedener Stรคdte vertreten โ so an der Technischen Hochschule Mittweida, am Altbau des Bundesministerium fรผr Bildung und Forschung, mit Plastiken in Hannover, Taucha und Halle.
Natรผrlich denkt man anders รผber eine Gesellschaft wie die unsere nach, wenn man dieses Bild vor Augen hat. Wenn man diese โlinkenโ Bรผcher herauszieht, fรคllt der ganze Stapel krachend in sich zusammen. Sie gehรถren also irgendwie dazu, sind wesentlicher Teil der Debatte, werden aber durch das Gewicht der anderen wichtigen Bรผcher gehalten. Erst die Vielstimmigkeit bringt den Stapel irgendwie in eine labile Balance.
Wo dem Schรผler Karl Marx die Armut รผber den Weg lief
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Es gibt 2 Kommentare
Nichz zu vergessen, dass noch ein anderer โKurzzeitwahlleipzigerโ einer Rolle spielte, nรคmlich Oscar Eisengarten. Der wurde 1857 in Halle geboren, war Anfang der 1880er Jahre aber in Leipzig bzw. Schkeuditz zu Hause, zog dann (zwangsweise) nach London, wurde dort Sekretรคr von Engels und fertigte zwischen Juni 1884 und Februar 1885 das Redaktionsmanuskript des 2. Bandes des โKapitalsโ an. Es war ein grรถรtenteils handschriftliches Manuskript, das Eisengarten erstellte und das Meissner beim zweiten Band als Druckvorlage benutzte. Eisengarten war รผbrigens selbst gelernter Schriftsetzer.
Es sei nicht vergessen, dass Michael Weickert, Stadtrat der CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat 2018 noch das zum Besten gab: โFrau Dr. Jennicke unterlรคuft den Ratsbeschluss, sich kritisch mit Karl Marx auseinanderzusetzen. Es zeigt sich, dass sie eine Schรผlerin aus der Kaderschmiede von Stasi-Kรผlow ist. Hinter ihrer linksbรผrgerlichen Fassade verbirgt sich der Ungeist des Kommunismus. Der OBM sollte dafรผr Sorge tragen, dass diese Bettelei fรผr Marx auf der Internetseite verschwindet.โ
Der (ewige) Lehramtsstudent Weickert konnte die Erinnerungstafel nicht verhindern.
Ob er inzwischen โDas Kapitalโ gelesen hat?