Wenn Gotteshäuser wie Synagogen, Kirchen, Moscheen aus welchen Gründen auch immer geschändet, beschädigt, zerstört werden, fühlen sich Menschen im Innersten getroffen – unabhängig davon, ob sie selbst religiös gebunden sind oder nicht. Denn mit Gotteshäusern verbinden viele Menschen das, was ihrem Leben Fundament, Halt und Identität jenseits aller materiellen Absicherungen, Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften und Nationalismen verleiht: Gott, die ganz andere, unverfügbare Macht, der ich mich in aller Hilflosigkeit anvertrauen kann, ohne dass sich irgendjemand dazwischenschaltet.
Das ist der tiefe Grund, warum die meisten Menschen trotz der Versagensgeschichte derer, die Religionsgemeinschaften leiten und den Bau von Gotteshäusern vorantreiben, völlig überdimensionierte Gebäude wie Kathedralen akzeptieren, unterstützen, ja sie als unverzichtbares Zentrum des Lebens ansehen.
Wenn weltweit viele Menschen über die erheblichen Beschädigungen, die die Kathedrale Notre-Dame de Paris durch den verheerenden Brand erlitten hat, tief erschüttert sind, dann ist das eine nachvollziehbare Reaktion und ein gutes Zeichen. Nachvollziehbar, weil Menschen mit solchen Bauwerken bewusst und unbewusst Identität verbinden – Orte der Selbstfindung und Anknüpfungspunkt für Erneuerung; gut, weil damit Menschen im Augenblick der Gefährdung instinktiv zum Ausdruck bringen: Städte ohne sichtbare Gotteshäuser sind kaum lebensfähig; oder wie Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte: „Die Kirche ist wie die Seele einer Stadt, egal was man glaubt.“
Darum machte den Pariser/innen in den Stunden des Brandes die apokalyptische Vorstellung eines leeren, seelenlosen Platzes auf der Ĭles de la Cité so große Angst. Allerdings: das gilt nicht nur für die unterzugehen drohende Notre-Dame. Wer am Montagabend live mitbangte, konnte eine Ahnung davon bekommen, was am 30. Mai 1968 Leipziger/innen bei der Sprengung der Universitätskirche durchlitten haben, wie sich jede Hoffnung in den Staubwolken der zusammenfallenden Kirche aufzulösen drohte.
Vielleicht begreifen nach dem vergangenen Dienstag auch die Leipziger Universitätsangehörigen besser, warum dieses Verbrechen nicht besiegelt werden durfte, sondern eine neue Universitätskirche gebaut werden musste. Denn was für Notre-Dame de Paris gilt, trifft für jedes Gotteshaus zu: auch für die Synagogen, die geschändet wurden; für die Moscheen, die vom IS in Syrien zerstört wurden; für die Kirchen und Dörfer, die in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland abgebaggert wurden. Auch dadurch wurden Menschen tief im Innersten verletzt und ihrer Identität beraubt.
Doch leider wird zu oft mit zweierlei Maß gemessen. Als der neoromanische Dom zu Immerath mit seinen beiden machtvollen Türmen im Januar 2018 zugunsten des Braunkohleabbaus abgerissen wurde, hat das in Deutschland kaum jemanden berührt, und selbst den Kirchen war dies keinen Protest wert. Die gleichen Leute, die jetzt – wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer – zu Spenden für die Notre-Dame aufrufen, haben keinen Skrupel, den Abriss der Kirche in Pödelwitz zu befürworten.
Doch die 700 Jahre alte Dorfkirche ist genauso ein europäisches Kulturdenkmal, ein lokales Zeichen für weltweiten Glauben, das Identität stiftet, wie die Notre-Dame de Paris, wie jede Synagoge, die 1938 in Brand gesetzt wurde, wie jede Moschee, die in Europa Ziel eines Anschlags wird. Denn Gotteshäuser beinhalten den Schatz der Botschaft, die nicht national oder regional begrenzt und auch nicht beschädigt werden kann durch das, was Menschen durch Unzulänglichkeit oder durch religiös-ideologisch motivierten Zerstörungswillen anzurichten in der Lage sind. Die Geschichte lehrt: Überlebt haben Gott sei Dank nicht die Brandstifter und Biedermänner, Bestand hat die Botschaft, die sich mit Gotteshäusern ihre Hülle sucht.
„Mit jedem Menschenleben stirbt die Welt“, hat Gerhard Hauptmann geschrieben. Ja, auch jede Kirchenzerstörung hat eine globale Dimension. Doch dabei bleibt es nicht. Denn so wie einstmals das Feuer im Dornbusch diesen nicht auslöschen konnte (Die Bibel: 2. Mose 3), so bleiben die Grundwerte des biblischen Glaubens als unvergänglicher Schatz lebendig. Dafür kann der erschütternde fotografische Blick ins Innere der Notre-Dame gelten: das leuchtend goldene Kreuz über den grau-schwarzen Trümmern des herabgestürzten Gewölbes und des noch rauchenden Gebälks – ein Osterfeuer in der Karwoche. Denn damit wird deutlich: Die Botschaft des Kreuzes kann nicht zerstört werden – weder durch Naturgewalten, noch durch ein Flammeninferno, noch durch all die, die unerbittlich Golgatha wiederholen.
In der Bibel wird berichtet, wie eines Tages Mose fassungslos in den brennenden Dornbusch starrt. Der Dornbusch wird aber nicht von den Flammen verzehrt. Vielmehr erfährt Mose aus ihm seine Berufung, das Volk Israel in die Freiheit zu führen. So ist es auch unsere Aufgabe, in dem Pariser Feuersturm die Botschaft für das Leben zu entdecken. Das, was Jesus ans Kreuz gebracht hat: die blindwütige Selbstbehauptung der Macht; das, was unsere Hoffnungen durchkreuzt: das ohnmächtige Ausgeliefertsein an uns beherrschende Strukturen; das, was uns bis an den Rand der Verzweiflung treibt: Katastrophen, Gewalt, Terror – all das behält nicht das letzte Wort. Das letzte Wort bleibt dem Auferstandenen vorbehalten: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ (Die Bibel: Johannes 14,19). Für diese Botschaft brauchen wir Kirchen in Städten und Dörfern als Zeichen für einen alle Grenzen überwindenden, global wirkenden Glauben und als bergenden Raum für all die Werte, die sich durch Jesu Auferstehung als ein bleibender, lebendiger Schatz erweisen.
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