Die groรŸen Zeitungen sind ja voll von Geschichten รผber eine zunehmend aus dem Lot geratene Gesellschaft. Es wird gepรถbelt, gewรผtet, niedergemacht. Die Rechtsradikalen sammeln die Wรผtenden ein, die oft das Gefรผhl haben, nur Bรผrger 2. Klasse zu sein. Sie fรผhlen sich nicht wertgeschรคtzt. Aber sie wissen auch nicht, wie sie sich Wertschรคtzung erringen kรถnnen. Und dann wรผten sie รผber andere, Schwรคchere her.

Es ist ja nicht nur Sachsens Integrationsministerin Petra Kรถpping, die im Land herumreist und versucht zu verstehen, was da los ist, woher das kommt und ob das nicht etwas mit der vergurkten Deutschen Einheit zu tun hat. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn das Gefรผhl, nicht mehr wertgeschรคtzt zu werden, haben auch andere Menschen, auch Westdeutsche, auch Mรคnner in gutbezahlten Positionen. Leute, die alles haben und sich alles leisten kรถnnen.

Und trotzdem ist da ein riesiges Loch der Not, ein permanentes Gefรผhl der Frustration, des Nicht-Erfรผlltseins. Ein gewisses Albtraumgefรผhl, das auch all jene kennen, die sich jeden Morgen im Stress auf die Arbeit begeben, um dann acht, neun, zehn Stunden hintereinander Dinge zu tun, von denen sie genau wissen, dass sie sinnlos sind, dass ihnen diese Arbeit eigentlich zutiefst zuwider ist. Nur verdienen sie so ihren Lebensunterhalt. Sie kรถnnen gar nicht anders. Ihr Leben hat keine Ausstiegs- und Umsteigeoption.

Wenn man genauer hinhรถrt โ€“ auch in die Rufe und Rigorositรคten der Erzรผrnten, Wรผtenden und Schrillenโ€“ merkt man, dass es eigentlich um den Kern unserer Gesellschaft geht, um ein Unbehagen, das viele Menschen so kรถrperlich spรผren, dass sie gar nicht anders kรถnnen, als aktiv zu werden und einen Schuldigen zu suchen fรผr ihre Lebensmisere. Oder eine Schuldige: โ€žMerkel muss wegโ€œ?

Zum Beispiel.

Natรผrlich muss sie weg. Nicht weil sie Dinge getan hat, sondern weil sie Dinge nicht tut. Ihr Regierungskabinett ist ein Kabinett der Unmรถglichkeiten, gespickt mit Leuten, die nicht mal mehr vortรคuschen, sie wรผrden dort im Namen des Volkes ihre Arbeit tun. Leute, die sich vom Steuerzahler dafรผr bezahlen lassen, dass sie sich um den Gewinn groรŸer Konzerne kรผmmern. Diener fremder Herren. Und in gewisser Weise wieder typische Beispiele fรผr Menschen ohne Seele, ohne Haltung, ohne Rรผckgrat.

Aber woher kommt das? Warum ertragen wir Leute, die so sichtlich weder Empathie besitzen noch auch nur im Geringsten bereit scheinen, unser aller Probleme im Sinne einer funktionierenden Gesellschaft und einer lebbaren Zukunft zu lรถsen? Und warum tauchen da oben keine Politiker auf, bei denen man noch Lust verspรผrt, die Dinge mit menschlichem Sachverstand anzupacken?

Ein Gedanke, der nicht zufรคllig auftaucht, nachdem am Montagmorgen lauter Fernsehkritiken zur abendlichen Talk-Runde bei โ€žAnne Willโ€œ auftauchten, in der irgendwie รผber โ€žtoxische Arbeitsverhรคltnisseโ€œ, รœberarbeitung, Stress, Depressionen gesprochen wurde. Alles Erscheinungen, die nachweislich zunehmen in unserer Gesellschaft. Aber sie sind eben nicht nur Zeichen fรผr eine Arbeitswelt, die die Menschen immer mehr konditioniert und รผberfordert.

Es steckt etwas anderes dahinter. Durchaus eine Systemfrage, wie der Neurobiologe Gerald Hรผther feststellt. Ein Mann, der mit seiner unverstellten Sicht auf das menschliche Denken und Werden sein Publikum immer wieder verblรผfft.

Wahrscheinlich hรคtte sich auch der Rauschebart Marx im Publikum vor Freude gekringelt, weil Hรผther aus seiner jahrzehntelangen Kognitionsforschung etwas weiรŸ, was Marx noch nicht wissen konnte, als er seine These von der Entfremdung formulierte. Er hatte ja nur Zahlen zur Verfรผgung und konnte nur theoretisch konstruieren, was eine sinnlose Arbeit mit den Arbeitern anrichtet, die sie tun.

Wo das, was sie tun, keinen Sinn mehr stiftet, weil der Zusammenhang zwischen dem eigenen Dasein und dem Produzierten vรถllig zerrissen ist. Unter anderem. Das geht bei Marx noch weiter. Und wer die Stellen liest weiรŸ, dass der alte Knilch heute moderner und aktueller ist als die ganze neoklassische ร–konomengesellschaft, die uns aller Nase lang neue Schauermรคrchen รผber das Bruttoinlandsprodukt erzรคhlt.

An sich auch schon wieder eine ihrem eigentlichen Kern vรถllig entfremdete Pseudo-Wissenschaft, die sich mit der Grundfrage รผberhaupt nicht beschรคftigt: Was richtet unsere von Wachstumsglauben und Konsum besessene Gesellschaft nicht nur mit der Welt an, sondern auch mit uns?

Und wie deformiert das eigentlich unser Denken รผber Arbeit, Leben und Erfรผllung?

Und was bleibt dann eigentlich von all den heiligen Gรผtern, die wir die ganze Zeit wie eine Monstranz vor uns her tragen: Freiheit, Gleichheit, Menschenwรผrde?

Womit wir beim Thema sind. Worauf Hรผther auch immer wieder eingeht. Denn dass so viele Menschen das stรคndige Gefรผhl haben, nicht geachtet zu sein, ihrer Wรผrde beraubt und zu โ€žBรผrgern 2. Klasseโ€œ gemacht worden zu sein, hat ja damit zu tun. Sie fรผhlen sich nicht als Gestalter des eigenen Lebens. Sie haben dem groรŸen Versprechen gelauscht, mit der Marktwirtschaft wรผrde die Erfรผllung all ihrer Wรผnsche kommen.

Und dann kam zwar der Konsum, ein deutlich besseres Leben. Und trotzdem fraรŸ sich immer mehr die Gewissheit in ihr Denken, dass etwas Wichtiges fehlt. Etwas, das sie als Zurรผcksetzung empfinden, als Fremdbestimmung, als eine Ungleichwertigkeit, als wรคre ihr ganzes Leben und Tun und Arbeiten nichts wert. Weniger wert als das Leben anderer Menschen, die scheinbar bevorzugt werden.

Und: Hat eigentlich ein Leben, das so dermaรŸen (gefรผhlt) wenig Wertschรคtzung bekommt, รผberhaupt einen Sinn?

Eine Frage, die Hรผther sehr klug und wissenschaftlich ergrรผndet. Denn dass unser so einmaliges Gehirn รผberhaupt so einen riesigen Bedarf an Sinngebung hat, ist etwas Besonderes. Erst das macht uns zu Menschen. Aber das hat auch Folgen. Denn die Suche nach Sinngebung treibt uns schon im Mutterbauch an. Und sie wird oft schon frรผh enttรคuscht, falsch gelenkt. Wir werden durch falsche Lehren aufs falsche Gleis geschickt. Aufs Gleis des Unglรผcklichseins.

https://www.youtube.com/watch?v=nApkNjui6rk

Denn unglรผcklich sind wir ja nicht, weil wir nicht alles hรคtten, was wir brauchen. Materiell sind die Bรผrger dieses Lands so gut versorgt wie noch nie eine Bevรถlkerung in Mitteleuropa. An Dingen, mit denen man Bedรผrfnisse schnellstens befriedigen kann, fehlt es nicht. Auch nicht an solchen, mit denen wir unsere wichtigsten Bedรผrfnisse ersticken kรถnnen.

Sie merken schon: Das hat sehr viel mit diesem letztlich oberflรคchlichen Plรคtschern bei Anne Will zu tun. Denn dass Menschen ausbrennen, hat nicht zuerst mit kรถrperlicher รœberlastung zu tun, sondern mit seelischer. Sie kennen ihre Grenzen nicht oder sehen sich gezwungen, diese Grenzen zu missachten, sich selbst aufzuputschen (mit vielen erlaubten oder illegalen Drogen), stรคndig รผber das Leistbare hinauszugehen. Aber es betrifft auch schon die Kinder in der Schule. Und allein der dortige Leistungsstress ist nicht schuld daran.

Denn es geht schon frรผher los. Es beginnt damit, dass Kinder in unseren Schulen nicht mehr als Entdecker, als von Natur aus Neugierige akzeptiert werden. Die riesige Begeisterung unseres jungen Gehirns, die Kinder regelrecht aufdrehen lรคsst, wenn sie die Welt in all ihrer Vielfalt entdecken dรผrfen, wird mit Schuleintritt jรคh ausgebremst, der SpaรŸ am Lernen dรผrfen wird eingekastelt und abgewรผrgt.

Unter anderem mit dem Ergebnis, dass 19 Prozent unserer Viertklรคssler noch nicht einmal richtig lesen kรถnnen.

Und diese Viertklรคssler werden natรผrlich sofort aussortiert. Wir haben kein Bildungssystem, das die Kinder tatsรคchlich anspornt, all ihre Freude und Lust am Lernen auszuleben. Wir haben ein Bildungssystem, das seine Schรผler zutiefst frustriert. Das Menschen erzeugt, die lernen, dass Neugier und Selbstorganisation des Teufels sind. Belohnt wird nur Angepasstheit, Auswendiglernen normierten Wissens.

Mit freiem Denken und der Fรคhigkeit, das eigene Leben neugierig und lustvoll anzupacken, hat das nichts mehr zu tun.

Und damit eben auch nicht mit dem, was die meisten Menschen im Lauf ihres Lebens umtreibt. Denn sie wissen nicht, wozu sie auf diesem herrlichen Planeten eigentlich gelandet sind. Das erzรคhlt Hรผther alles sehr anschaulich. Und er bringt das Dilemma auch schรถn auf den Punkt. Denn natรผrlich wissen wir โ€“ dank wissenschaftlicher Forschung โ€“ mittlerweile verdammt viel รผber unseren Kosmos. Aber wir wissen auch: Es gibt darin keinen Sinn. Jedenfalls keinen, den uns jemand anders geben kรถnnte.

Und das ist die Herausforderung: Wir sind es selbst, die herausfinden mรผssen, wer wir tatsรคchlich sind und welchen Sinn wir unserem Leben geben wollen. Und Hรผther verschweigt auch nicht, dass das mit Egoismus nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Denn Rรผcksichtslosigkeit zerstรถrt eine Menge von dem, was unserem Leben wirklich Sinn gibt. Einen Sinn, รผber den Tiere nicht nachdenken mรผssen. Sie leben einfach, wie es ihre Instinkte ihnen sagen.

Aber wir haben dieses komische Gehirn mitbekommen, das natรผrlich immer wieder (wenn auch bei manchen Leuten immer leiser) fragt: Welchen Sinn hat dein Leben? Welchen Sinn willst du ihm eigentlich geben?

Hรผther erzรคhlt auch, was das mit der im Grundgesetz aufgeschriebenen Menschenwรผrde zu tun hat, รผber die alle reden, aber augenscheinlich ist gerade sie das grรถรŸte Tabu unserer Gesellschaft.

Weil man mit Menschen, die ihre eigene Wรผrde definieren und damit auch klare Grenzen ziehen, eben nicht alles machen kann, was man will. Das sind Menschen, die sich nicht zu jeder idiotischen Arbeit fรผgen und nicht jeden Quatsch kaufen mรผssen, den ihnen die Werbung aufschwatzt, die sich aber wirklich um das kรผmmern, was ihnen wirklich wichtig ist. Und genau daraus entsteht Sinn.

Die Serie โ€žNachdenken รผber โ€ฆโ€œ

 

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Es gibt 3 Kommentare

Stimmt. Ich hab vor Jahren mal ne Doku รผber eine Polizei-Reiterstaffel gesehen. Eine der Polizistinnen meinte, der Job macht ihr so viel SpaรŸ, dass sie immer ganz รผberrascht und traurig sei, wenn schon Feierabend ist. Daran muss ich immer wieder denken, genau so muss ein Job sein.

Stand nicht hier mal in einem Artikel, so in etwa โ€ Wer einen Job findet, der SpaรŸ macht, muss nie wieder in seinem Leben Arbeiten.โ€ Oder so รคhnlich.

Genau, Sabine Eicke. Wer entfremdet ist, im Extremfall also ein Depotmanager oder so, der kann nur das Ziel, mehr Geld, im Auge haben. Es gibt da keinen Weg.
Und wenn man dann fragt: โ€œWas machst du eigentich beruflich?โ€ โ€“ wie viele Leute kรถnnen darauf eigentlich noch sinnvoll antworten? Vocatio โ€“ Berufung? Nee, Erwerbsarbeit!

Sehr spannend. Und sehr richtig. Sobald man gegen รคuรŸere, meist kรผnstliche Einflรผsse immun ist (wie z.B. o.g. Werbung oder Mode) und einem auch relativ egal ist, was andere (vor allem fremde) Menschen von einem denken, macht das Leben auch wirklich Sinn. Dann erst ist es MEIN Leben. Zumindest aus meiner Erfahrung.

Ich mag ja den Spruch โ€œDer Weg ist das Zielโ€. Ankommen ist doch viel unwichtiger als den Weg zu erforschen, oder?

Schreiben Sie einen Kommentar