Am Donnerstag, 10. Januar, kam Andreas Goldsteins Film „Adam & Evelyn“ in die Kinos, die Verfilmung von Ingo Schulzes 2009 erschienenem Roman. Natürlich ploppten auch überall pünktlich die Filmkritiken hoch. Und sie machten etwas deutlich, was meist nur ein Gefühl bleibt: Wie grandios das Medienversagen in Ostdeutschland ist. Knut Elstermann, der MDR KULTUR-Filmkritiker, brachte es mit seiner „feinsinnigen“ Kritik auf den Punkt. Der MDR ist nicht von dieser Welt. Aber wie erklärt man es den Aliens an Bord?

Wir haben diesen übersüßten Heimatsender mehrfach kritisiert. Aber wie erklärt man diesen hochbezahlten Leuten, dass sie völlig auf dem Holzweg sind, wenn dann doch wieder nur über Gebühren-Erhöhung und „öffentlich rechtlichen Auftrag“ diskutiert wird. Beides Schimären eines sich verselbständigenden Apparates, der sich seine Aufgaben selbst definiert, aber in Wirklichkeit seit 27 Jahren in einer selbst gerührten Suppe aus Ostalgie, Heimatschmarrn und Politikverklärung schwimmt, die nicht unerheblich zur Entpolitisierung des Sendegebietes und zu diesem faden „So geht sächsisch“-Gefühl beigetragen hat.

Von dem die regierenden Granden in Dresden glauben, dass damit die Wirklichkeit der Region und ihrer Bewohner widergespiegelt wird.

Was fehlt, ist die kritische Distanz zum eigenen Tun, von Reflexion ganz zu schweigen. Nicht einmal die selbstgefällig ausgerichteten Mitteldeutschen Medientage nutzt man, um aus der eigenen Blase herauszukommen. Es trifft nicht nur auf die gern gescholtenen Bürger selbst zu, dass sie in einer Filterblase leben. Auf den MDR trifft es genauso zu.

Und gerade Elstermann macht es deutlich, wenn er „Adam & Evelyn“ ausgerechnet mit solchen Sätzen anpreist: Evelyn „sehnt sich fort in den verlockenden Westen. Die offenen Grenzen in Ungarn im Sommer 1989 machen diesen Traum plötzlich möglich, den Schritt in ein neues Leben. Doch haben sie in Wirklichkeit vielleicht das unerkannte, sorglose Paradies verlassen? Finden sie im Westen die wahre Verheißung, kann es sie überhaupt geben? Liegen die Paradiese jenseits oder diesseits der eigenen Vorstellung?“

Das ist genau die MDR-Perspektive seit 1992. Unverändert, hausbackene Ostalgie mit West-Verklärung, die sich vor allem eines immer erspart: die kritische, sensible und aufmerksame Sicht auf die Menschen, die in der DDR gelebt haben. Das, was kaum ein heute lebender Schriftsteller noch so sensibel und genau zu beschreiben weiß wie der Dresdner Ingo Schulze.

Der sich schon immer gehütet hat, die übliche Stereotype der Landessender zur Sicht auf die DDR und den Osten zu übernehmen. Weder das Heile-Welt-Stereotyp, noch das von den „Opfern der Wende“ oder gar das von den dämlichen zwei Diktaturen.

Wer es erlebt hat weiß, dass das alles das Leben in der DDR nicht bestimmte. Schon gar nicht in den 1980er Jahren. Und deswegen stimmt Elstermanns Interpretationsrichtung schon nicht: Evelyn sehnte sich nicht fort. Schon gar nicht fort aus dem „Paradies“. Woher hat der Mann diesen Quatsch?

Selbst im kurzen Filmtrailer ist es unüberhörbar: Evelyn „will weg“. Der Westen war deshalb so anziehend, weil der Osten für viele Menschen so unaushaltbar geworden war. Nicht die vollen Warenregale im „goldenen Westen“ sorgten für das riesige Bedürfnis nach Flucht, sondern die lähmenden, bleiernen und erstarrten Zustände im Osten.

 

 

Aber die märchenhaften Interpretationen sind ja nicht neu. Sie schwemmten die Spalten und Sendekanäle dessen, was irgendwie glaubt, Ost-Medium zu sein (vom MDR bis zur Super-Illu) seit jenem Sturz in die Einheit. Selbstgefällige „gatekeeper“ der Sicht auf den Osten filterten alles genau nach diesen platten Schablonen. Und sie begründeten damit auch die selbstgefällige Haltung der westdeutschen Medien, die durchaus die dort geltende Haltung vermittelten: „Ja, was wollt ihr denn? Wir haben euch doch Freiheit und Wohlstand gebracht!“

Stimmt, sagt Max Dussel in der Kneipe.

Aber gerade Ingo Schulzes Bücher und jetzt diese von Andreas Goldstein und Jakobine Motz umgesetzte Verfilmung, die an das Beste erinnert, was einst die großen DEFA-Regisseure verfilmten, zeigen, dass es selbst in diesem Sommer 1989 um etwas anderes ging als um so leere Dinge wie Freiheit und Wohlstand. Der Film verblüfft übrigens auch deshalb, weil er zeigt, dass es sogar zwei ganz elementare Faktoren waren, die 1989/1990 für einen abrupten Wahrnehmungswechsel sorgten.

Der erste Faktor ist das Tempo. Denn genau das, was man beim Sehen dieses Filmes verspürt, diese erstaunliche Langsamkeit (die nur aus der Sicht einer völlig überdrehten Gesellschaft langsam wirkt), die auch „Zeit“ und F.A.Z. zu würdigen wissen, war das erlebte Tempo in der DDR. Die DDR war ein Land mit gedrosseltem Tempo. Was nicht nur mit fehlendem Flugverkehr und geringerem Autobestand zu tun hatte oder dem maroden Schienennetz der Deutschen Reichsbahn.

Das Leben der Menschen war tatsächlich entschleuningt – verglichen mit dem, was da 1990 einsetzte und mit Urgewalt über die fünfeinhalb neuen Bundesländer hinwegwalzte und binnen weniger Jahre alles auflöste und veränderte, was vorher jahrzehntelang unverändert Leben und Landschaft der Menschen bestimmt hatte.

Wer nur von Treuhand redet, wenn er diesen Prozess beschreibt, hat vieles nicht begriffen. Der ist noch nie in einem Trabant gefahren, der plötzlich in 10 Sekunden von 0 auf 250 km/h beschleunigt. Denn genau das ist damals passiert. Und ein Blick auf die Straßen von heute genügt, dass die damals Jungen davon bis heute gezeichnet – und überfordert – sind.

Und nicht nur das Tempo erhöhte sich praktisch über Nacht und sorgte für panische Ängste und ein dauerhaft anhaltendes Gefühl des Überfordertseins, auch die Stille verschwand. In den herrlichen Fotobänden aus dem Lehmstedt Verlag ist immer wieder von dieser Stille zu lesen, vom „stillen Land“. Und die Wahrheit ist: Die DDR war ein stilles Land.

So, wie es uns im Film auch begegnet. Heute leben wir in einer Lärmkulisse, die man eigentlich nur noch als martialisch bezeichnen kann. Es gibt praktisch keine Orte mehr, an denen nicht Verkehrslärm in irgendeiner Form zu hören ist. Und wenn nicht der Verkehr lärmt, dann sind es Laubbläser, Staubsauger, Fernseher, tragbares Musikgerät aller Art, Telefongerede, Flugzeug- oder Hubschrauberdröhnen …

Gut möglich, dass die Stille vielen in der DDR schon auf den Keks ging und sie auch seelisch bedrückte.

Aber gerade diese vielen Szenen ohne infernalische Musikuntermalung, ohne die heute der ganze Netflix-Bombast nicht auskommt, lassen nacherleben, wie viele Emotionen in fast wortlosen Szenen liegen. Wie Menschen tatsächlich intensiv miteinander kommunizieren. Wobei es an diesen trockenen, tastenden Dialogen ja auch nicht fehlt, weil Evelyn ja wirklich herausfinden will, wie Adam über die Flucht denkt, aber das erst in zweiter Hinsicht. Denn es geht auch ihr bei der Flucht nicht um den Westen. Das muss jetzt mal gesagt sein, sonst begreifen es unsere „Brüder und Schwestern“ einfach nicht. Es geht ihr um sich selbst und um ihre Beziehung.

Die richtig starken DEFA-Filme (selbst der emotional so völlig überladene „Paul und Paula“) haben sich immer mit dem Ureigentlichsten beschäftigt: Der Beziehung der Menschen zu sich selbst, ihren Mitmenschen, ihren Träumen und Gefühlen. Deswegen werden diese Filme immer so intensiv, weil es immer ums Ganze geht.

Nicht um Wohlstand, Karriere oder Macht, dem ganzen oberflächlichen Schnickschnack, mit dem wir heute zugemüllt werden. Da es diese Mittel der Ablenkung nicht gab, rückten solche Dinge wie Wahrhaftigkeit und Vertrauen in den Mittelpunkt der Filme. Was eine ganze Reihe starker Frauencharaktere im ostdeutschen Film hervorbrachte. Emanzipation wurde nicht über die Gehalts- und Karriere-Schiene aufgemacht, sondern über die durchaus männererschreckende Frage: „Wie stehst du eigentlich zu unserer Beziehung?“

So eine Frage stellt auch Evelyn ihrem Adam. Auch weil für sie das beklemmende Gefühl „Ich muss hier weg“ nicht mehr abzustreifen ist. Kommt er mit, wenn er es wirklich ernst meint mit Evelyn?

Dahinter steckt ja die nächste Frage, die sich augenscheinlich viele nicht gestellt haben, sonst hätten wir heute nicht dieses freudlose Gemaule alter, einsamer Männer, die den Osten mit lauter Griesgram erfüllen: „Wie ernsthaft meinst du tatsächlich diese Beziehung? Meinst du wirklich mich? Oder hättet du einfach jede genommen, die bereit gewesen wäre, dir deinen Haushalt zu machen?“

Evelyn hat ja ihre Erwartungen schon stark heruntergeschraubt.

Aber man kann es nicht überhören: Das ist auch ein Emanzipationsfilm. Ingo Schulze weiß, was für starke Frauen dieser so gern für ärmlich erklärte Osten hervorgebracht hat. Und wie viele dieser starken Frauen das Heft des Handelns in die Hand nahmen und die Frage stellten: „Wie lange sollen wir das eigentlich noch aushalten?“

Und bevor ich zu viel erzähle oder gar anfange, die ganzen Irrwege unserer Heimatsender aufzublättern, die dem Osten nun seit 27 Jahren einen Zerrspiegel vorgehalten haben, setze ich hier einen Punkt.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

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