LZ/Auszug Ausg. 31 / Juni 2016Die Schweizer haben etwas getan, wovon die Deutschen in zweierlei Hinsicht nur träumen können. Sie haben am 5. Juni 2016 direkt abgestimmt und sich im Vorfeld mit dem sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) befasst. Darüber gestritten, debattiert und am Ende gesagt: Nein, wollen wir (noch) nicht in der Schweiz. 76,9 % waren letztlich dagegen, 23 % dafür. Eine Utopie halt, unmöglich, unbezahlbar. Sagen die Gegner. Dabei geht es vor allem um ein anderes Steuersystem.

Monatelang hatten die Initiatoren rings um den Einbringer der Abstimmung, Unternehmer Daniel Häni, mit einer einfachen Frage für die Abstimmung geworben: „Was würdest Du tun, wenn für Dein Einkommen gesorgt wäre?“ Eine Kernfrage menschlichen Lebens in einer an sich reichen Gesellschaft. Wenn da nicht die Verteilung, besser Spreizung, des Reichtums wäre. Welcher jedoch gleichzeitig die Drohung sozialer Unruhen und der Wahl rechtsradikaler Parteien entgegensteht.

Und die Befürworter der Idee, einem jeden Menschen, der es möchte, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu geben, feierten trotz Niederlage in der Schweiz. Weil sie nun wissen, dass die Idee nur durch die Abstimmung selbst endlich in der breiten Gesellschaft angekommen ist. Und nun auch die Gegner der Idee Farbe bekennen mussten.

Denn letztlich geht es um zwei entscheidende Fragen, welche einer Antwort bedürfen. 64 % der Ablehnung einer Zahlung von 2.500 Franken (ca. 2.250 EUR, je nach Kurs) pro Monat erfolgten laut repräsentativen Umfragen mit dem schlichten Argument, dies wäre nicht finanzierbar. Weitere rund 60 % glaubten, es würde dann niemand mehr arbeiten gehen. Soweit die Zahlen in der Schweiz.

Beide Argumente lassen sich letztlich entkräften, auch in den bereits in Deutschland bestehenden Systemen. In Hinblick auf die Tatsache, dass die Schweizer aufgrund einer anderen Renten- und Sozialpolitik in Fragen der gerechten Verteilung zu den ausgewogensten Gesellschaften Europas gehören, darf vorab jedoch die Frage erlaubt sein, wie sich das Lohndumpingland Deutschland wohl prozentual entscheiden würde.

Einen Fingerzeig geben zwei Vorläufer des Schweizer Votings. Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2012 zum später sanft entschlafenen „Bürgerdialog für Deutschland“ aufrief, landete unter allen gesellschaftlichen Themen rings um die Frage „Wie wollen wir zukünftig leben?“ das BGE mit großem Abstand auf Platz 1 der Streitthemen. Und fand die meisten Befürworter.

Ernsthaft kalkuliert, besprochen und politisch gedacht wurde es dennoch nicht. Und bereits 2009 hatte eine Bundestagspetition von Susanne Wiest zum gleichen Thema den Server des Bundestages in die Knie gezwungen und gelangte mit über 50.000 Stimmen in die offizielle Anhörung. Geschehen ist dennoch nichts, die Think-Tanks der Republik waren offenbar mit anderen Fragen beschäftigt. Der Hauptwiderspruch blieb auch da: Es ist einfach nicht bezahlbar!

Nun haben die Deutschen bereits ein System, welches sogenannte „sozial Schwache“ versorgen soll. Da hier nicht schwerreiche Steueroptimierer gemeint sind, geht es u.a. also um Hartz IV. Im SGB I und II sind geregelt, wie, wer, warum und wann jemand Geld vom Staat erhält.

Kritiker des jetzigen Systems wissen: Die Kontroll- und Sanktionspraxis gerade im SGB II fressen mehr Ressourcen als sie einbringen, und dennoch lebt dieses ineffektive System seit 2004 bis heute. Parallel streiten sich Kommunen, Land und Bund um die einzelnen Bestandteile der Zahlungen an Arbeitslose mit Blick auf ihre jeweiligen Steuer-Haushalte. Über die dabei stattfindende Praxis gegenüber den betroffenen Menschen mit andauernder Gängelung via Sanktionen, welche das Existenzminimum einkürzen und oft reine Willkür sind, hat die LZ in der Ausgabe 31, Mai 2016, berichtet.

Dass hier auch der Druck entsteht, Menschen dauerhaft in Leiharbeitsschleifen zu halten, sei hinzugefügt. Es sind also alle Angestellten der Arge, die mit der Leistungsberechnung befasst sind, frei dafür, beratend für die Arbeitslosen tätig zu werden.

Und das jetzige System ist längst massiv unter Druck

Die 2016 mittels Crowdfunding entstandene und massiv aus Leipzig unterstützte, deutschlandweite Initiative „Sanktionsfrei“ wird zukünftig die Zahl der Rechtsstreitigkeiten rings um diese Kürzungen immer weiter ansteigen lassen. Und damit das System, welches statt attraktiver Arbeit und gezielten Förderungen eher „Fordern“ kennt, weiter unter Druck setzen. Denn nahezu alle Prozesse um Kürzungen werden gewonnen – wenn man denn klagt.

Auch dies ist eher eine Möglichkeit, aus dem Bestehenden heraus ein BGE zu entwickeln.

Denn bereits aus diesem derzeitigen System heraus würde sich ohne Sanktionen ein erster Schritt realisieren lassen. Mit allen staatlichen Zuwendungen von 400-500 EUR pro Einzelperson zuzüglich der Zahlungen an Krankenkassen, die regional stark unterschiedliche Miete und die eine oder andere Sonderausgabe werden bereits heute letztlich je nach Wohnort rund 1.000 und mehr EUR gewährt. Die freie Zuverdienstgrenze ab diesem Punkt für die erwerbslos gemeldeten Menschen im SGB II liegt bei derzeit rund 100 EUR brutto.

Danach wird konsequent am gesetzlichen Existenzminimum „gespart“, also jeder weitere Zuverdienst abgezogen. Unabhängig davon, dass es auch als eine Einladung zum Schwarzgeldverdienst verstanden werden könnte, gilt auch hierbei der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 EUR brutto (2016), was rund 12 abzugsfreie Arbeitsstunden im Monat ergibt. Wer auch immer sich diese Grenze ausgedacht hat: Sie ist in jedem Fall willkürlich und beschreibt einen Zustand zwischen Baum und Borke. Oder besser: im Leben weitab von Teilhabe an der Gesellschaft.

Der Abstand zu der Arbeit, die bei etwa 1.360 EUR brutto (ohne Sozialkosten) als annehmbar gilt, ist derart gering, dass es einen nicht mehr wundert, dass mancher trotz aller Drangsal im Hartz IV verharrt, als sich derart vergütet auf den Weg in eine Erwerbsarbeit am untersten Rand der Gesellschaft zu machen. Viele sind es dennoch nicht – was beweist, dass die Arbeit an sich ein gesellschaftlich hoch anerkanntes Gut ist. Man ist, sozusagen, was man arbeitet. Arm trotz Arbeit und drohende Altersarmut aufgrund geringster Einkünfte sind jedoch in diesem unteren Einkommensbereich ebenfalls längst gängige und belegte Schlagworte geworden.

Mittlerweile steht fest: Auch wer derzeit 45 Jahre arbeitet, wird mit dem aktuellen Mindestlohn keine Rente erwirtschaften, die über der Grundsicherung liegt. Der Mindestlohn wird, so wie aktuell von Gewerkschaften erneut angestoßen, seit seinem Bestehen als zu niedrig diskutiert, was Arbeitgeber naturgemäß anders sehen.

Die aktuelle Perspektive: Er müsste bei 11,68 EUR pro Stunde (Stand Juni 2016) liegen, um auch nur der Mindestrente im Alter zu entgehen. Und da die Riesterrente, zynischerweise angerechnet auf die Erwerbs-Rente, auch keinen wirklichen Ausweg bietet, bleibt nach neuesten Statistiken im Jahre 2030 für 40 % der deutschen Erwerbstätigen nur der Weg in die staatliche Mindestrente. Ein Vorgang, welcher die Solidargemeinschaft tatsächlich überfordern könnte – ganz abgesehen von der Frage, wie sich Deutschland dann noch reich nennen dürfte.

Ein Beispiel für eine Grundeinkommens-Idee

Sagen wir doch mal, gesamt rund 2.000 EUR? Was also würde geschehen, wenn die Gängeleien des Arbeitsamtes endeten, diese ersten rund 1.000 EUR auf Antrag jedem Menschen bedingungslos gewährt und die Zuverdienstmöglichkeit auf bspw. ebenfalls 1.000 EUR abzugsfrei angehoben würden?

Abzugsfrei deshalb, weil auch keine Versteuerung, kein Abzug des gewährten BGE der ersten 1.000 EUR stattfinden würde. Dies wären schon mal nach derzeitigem Mindestlohn rund 30 Arbeitsstunden pro Woche (nach der eigentlich nötigen Höhe des Mindestlohns also vielleicht 20 Arbeitsstunden: ein Halbtagsjob), aber die Krankenkasse wäre beglichen, die Miete bereits bezahlt, das Einkommen würde vollständig dem Arbeitenden – ganz gleich, ob selbstständig oder angestellt – zur Verfügung stehen.

Es wäre praktisch brutto als netto.

Steigen die Mieten oder andere Lebenshaltungskosten, würde daneben das neue BGE mit ansteigen. Was das gern gebrauchte Argument der sofort einsetzenden Teuerungsrate bei Einführung eines BGE abschwächen würde. Doch sei an dieser Stelle auch die Frage gestattet, warum eigentlich sonst auf den Markt schwörende Menschen annehmen, dass Firmen beim Werben um Kunden auf einmal den Preis nicht mehr als Kaufargument nutzen sollten. Würde dann auf einmal jeder versuchen, seinen Konkurrenten im Preis zu übertreffen?

Da die Renteneinzahlungen im heutigen und hier zum BGE gewandelten SGB II nicht geleistet werden, könnte der BGE-Empfänger nun ab 2.000 EUR, welche ein faktisches Netto darstellten, beginnen selbst einzuzahlen, um der Armut im Alter Stück um Stück zu entgehen.

Der eigentliche Schlüssel liegt in der gerechten Versteuerung aller Einkommen

Oberhalb dieser gesamt noch mickrigen ersten 2.000 EUR beginnt eine maßvolle Versteuerung und so werden die staatlichen Leistungen (wie dann das BGE) Stück um Stück wieder abgeschmolzen. Die Kontrolle läge, wie eigentlich heute auch bereits, demnach beim Finanzamt und nicht beim Jobcenter.

Denn auch hier wird die Ineffizienz des derzeitigen Systems deutlich: Statt die Finanzämter zu stärken, wurde bislang eine parallele Kontrollinstanz in den Jobcentern für derzeit geschätzt zwischen neun und zehn Mio. Menschen in Minijobs, Zuverdienst- und Aufstockersituationen errichtet, welche die Zuverdienste penibel genau überwacht. Ganz so, als ob eine Steuererklärung bei diesen Menschen im Gegensatz zu allen anderen Bürgern nicht genügen würde.

Das BGE hieße jedoch nicht BGE, wenn es nicht jeder erhalten könnte. Darum wäre also auch gern eine Beantragung durch Besser- bis sehr gut Verdienende möglich. Richtig ausgestaltet, würde der Antrag eben ziemlich unsinnig, da der Betrag bei ihren Einkommen über die Steuer am Ende des Jahres vom Gehalt und bei gut verdienenden Selbstständigen wieder zu fast 100 % über die Finanzämter eingezogen würde. Gestaltete man dies also quasi als Nullsummenspiel bei auskömmlichen Einkommen, würde sich der Antrag schlicht nicht lohnen.

Unternehmer müssten eigentlich Hurra schreien

Und hätten es dennoch mit selbstbewussteren Arbeitnehmern in den Gehaltsverhandlungen zu tun. Da diese keine Sanktionen mehr zu befürchten haben und um ein gewisses bedingungsloses Grundsalär wüssten, wäre eine Gesprächssituation auf Augenhöhe auch bei gering bezahlten Jobs möglich. Gleichzeitig würden wohl so eher Arbeitsverhältnisse entstehen, welche beide Seiten auch wirklich wollen.

Ein weiterer Effekt: Schwere oder vielleicht sogar unangenehme Arbeit würde ganz anders verhandelt werden, die Löhne in eben jenen Bereichen, welche heute von Pflege- bis Putzdiensten reichen, würden wohl eher steigen.

Gleichzeitig würden die Arbeitnehmer bereits mit den ersten Zahlungen oberhalb des BGE eine spürbare Verbesserung ihrer Einkommenssituation erfahren, auch wenn der gewünschte Kreativberuf vielleicht nicht gleich goldenen Boden bereitete. Ergreifen könnte man ihn jedoch leichter.

Die allgemeine Motivation stiege, und der Berufsein- oder Umstieg würde für viele Menschen erleichtert.

Das leichter widerlegbare Argument: „Keiner würde dann noch arbeiten“

60 % der Schweizer nahmen an, niemand würde mehr arbeiten gehen, da sie nach den anderen und nicht nach sich selbst befragt wurden. Ein klassischer Fall einer falschen Fragestellung. Richtig fragte am 7. Juni 2016 das Marktforschungsinstitut YouGov, welches von der Berliner Initiative „Mein Grundeinkommen e. V.“ beauftragt worden war.

Knapp die Hälfte der Befragten gaben danach in Deutschland an, sie würden genauso weiterarbeiten wie zuvor, wenn ein Grundeinkommen eingeführt würde. Sie sind also mit Job und Einkommen zufrieden. Ein weiteres Drittel würde zwar etwas an den eigenen Arbeitsbedingungen ändern, aber ebenfalls weiter einem Job nachgehen.

Nur 8 % sagten, dass sie dann nicht mehr arbeiten würden, weitere 7 % erklärten, arbeitslos bleiben zu wollen.

Bleibt wohl das Fazit

Eines muss man bei aller Freude am Visionieren an dieser Stelle einräumen: Es ist ein wenig wie mit einer Obergrenze bei den Rentenzahlungen: Ohne mehr Dynamik bei der Versteuerung im obersten Einkommensbereich ab runden 200.000 Euro Jahreseinkommen und eine ordentliche Versteuerung auf Kapitalgewinne wird die deutsche Gesellschaft so oder so immer weiter auseinandertreiben. Vollkommen unabhängig von der Frage, ob man nun für oder gegen ein Grundeinkommen ist.

Arbeitsfreude als Zwang definiert, ist wie eine Fehlinterpretation menschlicher Existenz und eher frühen Sklavenhaltergesellschaften entlehnt. Sie hat sich durch alle Zeiten hindurch durch selbst gewählte Tätigkeiten weiterentwickelt. Ohne diesen Drang zur „Arbeit“ würden wir immer noch auf den Bäumen umherspringen.

Das Grundeinkommen wäre vor allem eines: „Unbezahlbar“ – im Sinne eines wertvollen Fortschritts einer postindustriellen Gesellschaft.

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