Es ist wohl kein Zufall, wenn sich jetzt auch die großen bürgerlichen Zeitungen zunehmend mit der Frage beschäftigen, warum ein so großer Anteil unserer Gesellschaft auf einmal wieder offen ist für autoritäre Politik, für Führerkult und Sehnsucht nach geschlossenen Grenzen. Und warum sie sich auch endlich intensiver mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer beschäftigen, der seit 30 Jahren vor dem Aufkommen neuer nationalistischer Parteien warnte.

Seit 1990, seit dem, was einige Leute die „Deutsche Wiedervereinigung“ nennen, steht es auf der Tagesordnung. Eigentlich wissen es alle. Und die Warnungen waren damals deutlich genug. Nur schien das zumindest im medialen Raum niemanden zu interessieren. Helmut Kohl glaubte, die Deutsche Einheit quasi aus der Portokasse bezahlen zu können. „Blühende Landschaften“ sollte es im Osten geben – und zwar ziemlich schnell. Bis dann der Kater kam, weil das Gegenteil eintrat und die Treuhand tausende Betriebe nur noch schließen konnte.

Zwar wird das jetzt wieder Thema. Aber selbst Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) geht ja nicht davon aus, dass nun auf einmal die Treuhand allein zum großen Schuldigen für alles wird, was in den 1990er Jahren falschgelaufen ist. Ihr geht es vielmehr um die vielen empfundenen Verletzungen, die heute viele Ostdeutsche noch immer belasten. Oder zu belasten scheinen.

Aber geht es beim Aufschwung der AfD nur um den Osten?

Die Geschichte könnte trügen. Denn auch im Westen verbreitet die rechtsnationale Partei Angst und Schrecken: im bürgerlich-konservativen Lager.

Dass die SPD damit nicht umgehen kann – geschenkt. Die hat ihren Marx so gründlich entsorgt, dass man sich wirklich fragt, auf welcher Grundlage diese Partei noch kluge Politik machen will? Auf den Verlautbarungen der sogenannten „Wirtschaftsweisen“, die sofort wie Kai aus der Kiste sprangen, als nur mit dem Gedanken gespielt wurde, die Sanktionen in „Hartz IV“ abzuschaffen?

Das ist jetzt zugespitzt.

Mit den vielen Studien, die die Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gibt, hat die SPD eigentlich sehr viel fundiertes Material, ihre Politik wieder der Realität anzupassen. Nur scheint kein Mensch diese Studien im Willy-Brandt-Haus zu lesen. Man wurstelt lieber weiter vor sich hin, immer noch in dem Glauben, man würde sich – wie bei Gerhard Schröder – um die „Mitte“ der Gesellschaft kümmern.

Aber die ist – dummerweise – in Panik. Und zwar schon lange. Und ihre Ängste sind real.

Mit „Hartz IV“ hat man diese Ängste nur noch zusätzlich befeuert, brav im Schlepptau hochbezahlter Manager, die der Schröderregierung seinerzeit einredeten, man dürfe den Menschen keine „soziale Hängematte“ geben, in der sie sich ausruhen, wenn sie aus ihrem gut bezahlten Job fliegen.

Nein, nicht die „Hartz IV“-Empfänger sind diejenigen, die die meiste Angst vor diesem Absturz haben, sondern all die, die genau wissen, dass ein kleiner Sturm in der Konjunkturbadewanne genügt, und schon sind sie selbst ganz da unten. Mit allen Schikanen.

„Hartz IV“ ist nicht für die armen Schweine gemacht worden, die eh schon wissen, wie es sich mit dem letzten Cent in der Tasche lebt, sondern für die, die immer länger und härter arbeiten, um in einem immer wilderen Rennen ihre Position zu halten, die sich Pillen einwerfen und auch noch krank zur Arbeit fahren, auch gern stundenlang in immer längeren Staus stehen. Hauptsache, sie behalten ihren Job, sonst …

Am Horizont dabei das große Gespenst der Globalisierung, das sie alle kennen. Die Zeitungen sind ja voll davon. Die ganze Welt ist Konkurrenz geworden. Wer aber mithalten will in diesem Rennen, der muss noch schneller laufen, noch fitter sein, noch länger erreichbar sein und jederzeit flexibel, mobil und einsatzbereit.

Und das zeichnete sich 1990 schon ab. Die deutsche Vereinigung fand mitten in einer Zeit der verschärften Globalisierung statt. Deswegen kaufte kaum ein ausländisches Unternehmen im Osten ein. Warum auch? Zum ersten Mal ging eine komplette Region quasi über Nacht aus dem Rennen, strich die Segel, wurde zum Verramschen raus auf die Straße gestellt …

… und erwies sich zum größten Teil als unverkäuflich. Nicht mal für die berühmte Flohmarkt-Mark.

Das hat wirtschaftliche und globale Gründe. Das hätte man wissen können. Man hätte die Sache anders angehen müssen. Hat man aber nicht.

Aber das ist nicht die Ursache für den Aufstieg der AfD, oder besser: nur indirekt. Denn auch im Osten wurde die AfD nicht vorrangig von den Arbeitslosen und Niedriglöhnern gewählt, sondern – genau wie im Westen – von Leuten, die relativ gut verdienen, sich als Mittelklasse definieren, männlich und weiß sind und – trotzdem Angst haben.

Eine Angst, die sich versteckt.

Wilhelm Heitmeyer konnte das schon früh nachweisen. Sein jetzt bei Suhrkamp erschienenes Buch „Autoritäre Versuchungen“ erzählt von seinen Forschungen. Cornelia Koppetsch hat in der F.A.Z. dazu geschrieben.

Und das hier ist sozusagen des Pudels Kern.

Claudia Koppetsch: „Nicht die wachsenden Ungleichheiten und die daraus resultierenden Hegemoniekämpfe zwischen den Gewinnern und den Verlierern von Globalisierungsprozessen sind für Wilhelm Heitmeyer Ausgangspunkt des Aufstiegs der neuen Rechtsparteien. Das seien vielmehr die ‚autoritären Versuchungen‘, die sich infolge gesellschaftlicher Krisenereignisse einstellen: Erfahrungen tiefer Verunsicherung, Kontrollverluste und Desintegration, die laut Heitmeyer eine Nachfrage nach politischen Angeboten erzeugen, durch die Macht, Sicherheit und Kontrolle notfalls auch durch Ausgrenzung und Diskriminierung, wiederhergestellt werden. Wenn die Verhältnisse schon nicht zurückgedreht werden können, dann müssen aus dieser Sicht Sicherheit und Kontrolle durch autoritäre Maßnahmen wiederhergestellt werden.“

Womit wir auch bei den Stichworten wären, mit denen die Unionsparteien nun seit Jahrzehnten versuchen, ihre Politik zu beschreiben: „Macht, Sicherheit und Kontrolle“.

Die Welle der neuen Polizeigesetze erzählt davon. Big Brother entsteht aus dem tiefen Bedürfnis nach absoluter Kontrolle und absoluter Sicherheit. Nur funktioniert das nicht mehr. Die „Mitte“ fühlt sich zutiefst verunsichert.

Tobias Haberkorn hat in der „Zeit“ versucht, das Phänomen zu erfassen.

Seine Zustandsbeschreibung von der Stimmung in der „Mitte“ dürfte wohl zutreffen: „Die Angst vor kultureller Entfremdung dürfte demnach weniger wichtig als die Verstörung darüber gewesen sein, dass hunderttausenden anerkannten Flüchtlingen oder Asylbewerbern eine Grundsicherung zusteht, in die man selbst, unabhängig von Ausbildungsstand und Beitragszahlungen, schnell zurückfallen kann. Auch hier zeigt sich, dass die gesellschaftliche Mitte kein Ort ist, in dem man sich besonders wohlfühlt: Die Angst, nach unten abzusinken, mag irrational sein. Real ist sie trotzdem. (…) Man ist entweder nicht Mitte genug oder man ist es zu sehr, glücklich ist im Zentrum der Gesellschaft offenbar niemand.“

Zur Schule von Wilhelm Heitmeyer gehören ja im Grunde auch die Leipziger Sozialforscher um Oliver Decker und Elmar Brähler, die ihre neueste Studie jetzt endgültig unter die Überschrift „Flucht ins Autoritäre“ gestellt haben. Denn jede neue Befragungswelle bestätigt ja, dass gerade die Gutverdienenden und scheinbar Wohlversorgten in tiefen Ängsten stecken, Abstiegsängsten, Wohlstandsängsten, aber auch in Gefühlen wie Neid, Misstrauen, Verachtung.

Denn keine Bevölkerungsgruppe hat das Konkurrenzdenken so verinnerlicht wie die sogenannte Mitte, die ja in der Regel Aufstiegserfahrungen gemacht hat. Man hat sich durch Schule, Ausbildung, Studium nach oben gearbeitet. Noch nicht ganz nach oben, aber dahin, wo man sich – scheinbar – alle Versprechungen der Marktgesellschaft erfüllen kann: Mittelstandswagen, Eigenheim, Flugreisen, ordentliche Rente, die Kinder auf derselben Startrampe …

Aber verinnerlicht hat man sich auch den Spruch: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Oder: „Ohne Fleiß kein Preis“. Usw. Die deutsche Sprichwörterwelt ist ja voller Anspornungssprüche, die jeden und jede dazu bringen, noch früher aufzustehen, noch härter zu arbeiten, noch mehr Einsatz zu zeigen, um ordentlich zu verdienen. Belohnt wird der Mensch danach nur, wenn er dafür auch fleißig, gehorsam und anpassbar ist.

Und wo man Arbeit und Einsatzbereitschaft so glorifiziert, ist die Verachtung für die „faulen Säcke“ mit eingebaut, für die „Minderleister“, „Sozialschmarotzer“ und was der Vokabeln mehr sind, mit denen konservative Politiker ihr Wahlvolk jahrelang angepeitscht haben, stolz zu sein auf ihren „Bienenfleiß“ und jede Form der Ausnutzung „unseres Sozialstaats“ zu verachten.

Oliver Decker, Elmar Brähler (Hrsg.): Flucht ins Autoritäre. Foto: Ralf Julke
Oliver Decker, Elmar Brähler (Hrsg.): Flucht ins Autoritäre. Foto: Ralf Julke

Und das ist in den Umfragen der Leipziger Soziologen nachweisbar. „Aber nicht nur scheinbare Fremdheit begründet die Abwertung: 30 % der Befragten fordern, die Rechte jener Menschen einzuschränken, die nicht arbeiten“, schreiben Oliver Decker, Julia Schuler und Elmar Brähler in Auswertung der jüngsten Befragung.

Und wenig später: „Die Herrschaft des Marktes hat umso mehr Abwertung anderer zur Folge, je weniger er reguliert ist. (…) Die Unterwerfungsbereitschaft unter die Autorität des Marktes bei gleichzeitiger Unsicherheit über das Maß an Teilhabe an seiner Macht mündet in das Ressentiment.“

Das heißt: Die Betroffenen spüren sehr wohl, dass „ihr Staat“ Macht verloren hat, dass immer öfter wirtschaftliche Interessen („der Markt“) die Politik bestimmen. Weshalb sie sich einen starken Staat wünschen – aber nicht zur Bändigung des „Marktes“. Das ist ja das Paradoxe, sondern gegen die scheinbaren Konkurrenten um eine Teilhabe am Wohlstand.

Sie haben quasi den „Markt“ verinnerlicht und üben sich, wie die Sozialforscher schreiben, in „exklusiver Solidarität“. Sie definieren sich selbst als Kollektiv (was ja im Osten besonders gut funktioniert), als „Leistungsträger“ und Mittelklasse und behandeln von ihnen als ausgegrenzt betrachtete Gruppen als Ausschuss. Oder mit einem Zitat aus dem Text: „Was untauglich ist, bleibt liegen.“

Mit dem Muster können chauvinistische Parteien sehr gut umgehen. Aus dieser homogenen Gruppe der überzeugten und staatserhaltenden Leistungsträger wird dann ganz schnell wieder eine Volksgemeinschaft. Die empfundene Schwäche verkehrt sich in vermeintliche Stärke, wo man doch (mit gutem Recht) auftrumpft und nun meint, die anderen „jagen“ zu können. Oder gar zu müssen. Die Ängste werden in  Forderungen nach noch mehr Sicherheit und noch mehr staatlicher Härte (gegen die anderen) verwandelt. Und das sitzt tief. 64,6 Prozent der Befragten stimmten in der Autoritarismus-Studie der Aussage zu: „Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind“.

Man schreit ja regelrecht nach Ruhe, Ordnung und Infriedengelassenwerden. Tor zu, Mauer gebaut, Ruhe im Karton.

Selbst linke Wähler haben diese „autoritäre Aggression“ verinnerlicht – die Hälfte von ihnen stimmt der Aussage zu. Bei konservativen und rechten Wähler steigt der Wert natürlich deutlich an bis auf 80 Prozent. Er steigt auch mit dem Lebensalter an. Und bevor ich hier ausführlich werde, bremse ich und halte einfach das Bild eines Landes fest, dessen Mehrheit zutiefst verängstigt und autoritätsgläubig ist, die aber gleichzeitig bereitwillig alle Zumutungen eines rabiater gewordenen Arbeitsmarktes erträgt und ihre Aggressionen vor allem gegen jene kehrt, die diese Zumutungen infrage stellen.

Denn dann kommt ja die fürchterlichste aller Fragen: Was passiert, wenn Deutschland in diesem gnadenlosen Wettbewerb nicht mehr mithalten kann?

Und sage keiner, dass unsere geliebten Parteien der Mitte nicht genau diese Ängste geschürt haben. Seit olle Helmuts Zeiten, mit immer neuer Furie und Bildhaftigkeit. Oder mal so gesagt: Die Anfälligkeit für eine autoritäre Parteinahme wurde eifrigst gepflegt. Man sollte sich über die Folgen vielleicht nicht allzu sehr wundern.

Denn politische Präferenzen hängen nun einmal zuallererst mit Erwartungen und Gefühlen zusammen. Und wer keine Unruhestifter mag, der bekommt eben emsige Vogelschisser.

Und bevor jetzt alle deprimiert sind: Was könnte helfen?

Ein kleiner Schritt zur Seite. Und ein bisschen Nachdenken darüber, was wir uns als Menschen in unserem kurzen leben auf Erden tatsächlich wünschen. Es lohnt sich, darüber einmal wirklich nachzudenken.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

Eine Muntermacher-LZ Nr. 61 für aufmerksame Zeitgenossen

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