Ich liebe Reisen. Obwohl es mir wie so vielen geht: Man weiß nie, was man wirklich alles einpacken soll. Was ja für einige Reisende jedes Mal zu einer regelrechten Reisepanik wird. Also beschloss ich irgendwann mal, nur noch das Allernotwendigste mitzunehmen. Und mit leichterem Gepäck einfach wieder Platz zu haben fürs Verwundertsein. Denn wer mit offenen Augen reist, der wundert sich. Der muss sich wundern. Und lernt was dabei.

Gut, klar. Es gibt auch Leute, die sind so in ihren Mustern verfangen, die lernen auch nix, wenn sie die ganze Welt bereisen. Sie kommen nicht mit den Menschen in Kontakt, können sich ins Leben und die Sorgen anderer Menschen nicht hineinversetzen. Sie bekommen also auch keine Ahnung davon, worunter die Leute anderswo leiden. Und wie nah uns deren Probleme sind. Und wie vertraut.

Aber es gibt ja auch das Reisen zwischen vertrauten Orten. Das, was Dunja Hayali dann als ihre vier Heimaten bezeichnet – Städte, in denen sie sich sofort heimisch fühlt. Und akzeptiert. Orte, von denen sie weiß, dass dort Menschen leben, die sie kennen, die sich freuen, wenn sie kommt.

Womit sie ja auch das bestätigt, was ich selbst erlebe, wenn ich so zwischen Heimaten unterwegs bin. Ich habe ja auch mehrere. Und an jedem Ort bin ich anders zu Hause, anders verstanden und akzeptiert.

Was Hayali so nicht betont. Denn oft wählt man in seinem Leben, wenn man fortgeht, neue Heimaten, weil man nur dort seine Träume verwirklichen kann, seine Vorstellungen von der richtigen Art Arbeit, der richtigen Art Familiengestaltung. Was mich ja oft genug verblüfft hat. Es gibt so viele vertraute Menschen, die sich in Orten wohlfühlen, die mir selbst drei Nummern zu klein wären. Oder in Arbeitswelten, die mir zwei Nummern zu groß wären.

Die in ihren – so aus Leipziger Sicht – kleineren Orten zu Hause sind und auch nicht nach anderen Heimaten suchen. Auch nicht gern suchen möchten. Heimat ist ja auch ein Ort, den man nicht gern verlassen möchte. Das kann auch eins der vielen hundert kleinen Dörfer da draußen abseits der S-Bahn sein, eins der liebevoll restaurierten Städtchen zwischen Lausitz und Harz. Städten, denen man ansieht, dass hier viel Liebe in die Wiederherstellung dessen gesteckt wurde, was 1989 unansehnlich und grau ausgesehen hat.

Es ist so ein kleiner Fingerzeig, der ahnen lässt, woher die Unruhe kommt, die Verstörung dadurch, dass mit den Menschen, die hier bei uns Zuflucht finden, auch ein kalter Hauch von draußen hereinkommt. Und nicht nur die Idylle stört. Sondern auch aufschreckt, weil die Idylle ja schon länger gestört ist. Nicht äußerlich. Die Häuser sind mit so viel Fleiß wieder schön gemacht worden. Jedes einzelne strahlt Geborgenheit aus, so ein Verwurzeltsein: Wir haben uns was aufgebaut. Das ist ein Lebenstraum für glückliche Familien.

Die Kirche ist auch noch da, liebevoll saniert. Aber dafür ist das Gemeindeamt verschwunden und liegt jetzt zehn Kilometer weit weg im Hauptort der Großgemeinde. Die Kita gibt es noch. Zum Glück. Dafür sind von den vier Bäckereien, die es mal gab, alle verschwunden. Fleischer dito. Um den Landarzt gibt es seit Jahren Gezerre, weil die Ärztekammer für die Besetzung andere (schematische) Vorstellungen hat als die Ärztin aus Litauen, die gern die Praxis übernehmen würde. Der Dorfladen ist schon lange verschwunden. Die Schule ist geschrumpft. Die größeren Kinder müssen mit dem Schulbus 30 Kilometer weit in die Kreisstadt fahren.

Es ist schon ungemütlicher geworden. Das Gefühl, hier Heimat zu haben, hat zwar keinen Knacks – aber Schrammen bekommen. Ein Stück vom Dorfleben ist verschwunden. Rationalisiert und irgendwo anders angesiedelt. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass weniger Kinder da sind.

Und noch weniger Mittelständler, wie der Bürgermeister so gern in Imagefilmen meint, obwohl es eher um Handwerker und Kleinbetriebe geht. Die mit größeren Maschinen weniger Leute brauchen. Also fährt fast das ganze Dorf morgens in nebeliger Frühe Dutzende Kilometer weit, um in der Stadt zu arbeiten. Da spielt sich dann auch weniger Leben in der Öffentlichkeit ab. Man trifft sich eher bei Dorf- und Familienfesten.

Noch funktioniert die besorgte Dorfmaschine des Wissens übereinander. Heimat ist in so einem Fall auch: Alle wissen fast alles übereinander. Was auch die Basis für Hilfe ist, wenn man mal welche braucht. Und für echten Zoff, der Generationen hält, wenn einer wirklich stur sein Ding durchzieht.

Und von solchen Heimaten gibt es viele. Man kann nicht immer vom Großstadtgefühl ausgehen, wenn man beschreiben will, wie die Veränderungen wirken im Land. Und wie Menschen damit umgehen, wenn Entscheidungen nicht mehr erklärt werden und weit weg passieren.

Aus so einem Dorf irgendwo in der Stille des Landes ist die Entfernung nach Brüssel noch zehnmal größer als etwa aus Leipzig. Was dort entschieden wird, hat mit dem eigenen Alltag fast nichts mehr zu tun – wirkt aber immer wie eine Störung. Eine fortwährende Beunruhigung. Und Bevormundung von Leuten, die man überhaupt nicht kennt.

So wie die ewig vor sich hinköchelnde Dieselaffäre, die natürlich diese aufs Auto angewiesenen Bewohner der stillen Provinz noch viel mehr trifft als die Großstädter. Man bekommt so eine Ahnung von der zunehmenden Befremdnis über das, was „die da oben“ die ganze Zeit reden und beschließen. Als wäre es ein anderer Stern. Unerreichbar sowieso, unbeeinflussbar ebenfalls. Aliens mit Alien-Problemen, die mit der Wirklichkeit in den verlassenen Landschaften kaum noch etwas zu tun haben.

Was ja nicht aufhört, wenn man die Ebenen darunter anschaut.

Wahrscheinlich kann nicht einmal Angela Merkel etwas dafür. Sie steht eher für dieses Gesamtgefühl von Verlassensein, von einem Nicht-mehr-gemeint-sein. Als mache sie nur Politik für andere, die hier niemand kennt. Was ja auch meist stimmt. Es greift nicht mehr ineinander. Und für viele, die dann morgens über die nassen Landstraßen fahren zu einem Job, der zwar Geld bringt, aber nicht wirklich begeistert, wird das tatsächlich zu so einem Rumoren: Und wir?

Wer kümmert sich um uns?

Darum, dass zehrende Arbeit auch belohnt wird? Dass man nicht immer das Gefühl hat, lästig oder gar austauschbar zu sein. Austauschbar gegen Billigarbeiter, die fürs halbe Geld dieselbe Arbeit machen können. Das ist die Stelle, an der ich ja dann die Entstehungsgeschichte unserer tollen „Landwurst“ im Supermarkt erzählen könnte.

Mache ich jetzt aber nicht.

Es gäbe Geschichten genug, die wir auch in dieser Zeitung erzählen könnten, wenn wir uns nicht jeden Tag wieder dafür entschuldigen müssten, dass wir immer noch nicht genug schaffen. Die Missachtung von wirklich wichtiger Arbeit geht weiter. Auch das so ein Thema einer durchaus nachdenklichen Landreise. Es sind auch viele Menschen aus diesen stillen Dörfern, die immer mutloser werden und auch Arbeitsstellen verlassen, die sie eigentlich gern ausgefüllt haben – aber wo ihnen dann („Sie arbeiten doch so gerne!?“) immer mehr Pflichten und Tätigkeiten aufgehalst wurden, was die großen Reformer dann Synergie oder Effizienz nennen.

Was aber nur Menschen zermahlt, die einmal Arbeit noch mit Freude ausgefüllt haben.

Sie sehen schon: Es tun sich alle Abgründe auf, die wir selbst in diesem ach so erfolgreichen Leipzig schon sehen. Auch wenn einige unserer hochbezahlten Marketing-Experten das alles schön zuschmieren mit „Hypezig“ oder „Boomtown“. Die Erdrutsche, die wir erleben, haben mit diesem immer greifbareren Gefühl zu tun, dass hinter den Potemkinschen Fassaden die glattgeschmirgelte Trostlosigkeit der Grauen Männer steckt, die alles zu Geld und Ware machen. Und denen es egal ist, ob die Menschen ihren Mut und ihre Freude am Arbeiten verlieren.

So von außen betrachtet, wirkt das alles wie ein Super-Computerprogramm, das so langsam auf Verschleiß läuft und in dem die ersten Daten und Funktionen verschwinden. Noch kein System-Error, aber so ein flaues Gefühl, dass das Programm nicht mehr lange so durchhält.

Und dass sich mal wieder jemand daranmachen müsste, das ganze Ding wieder auf Vordermann zu bringen und die wichtigsten Funktionen wieder zum Laufen zu bringen.

Was aber mit Menschen zu tun hat. Ihren Hoffnungen. Und ihren Ängsten, dass das jetzt immer so weitergeht.

Die Serie „Nachdenken über …“

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