Kommentar28 Jahre trennen uns von der ersten großen Feier zum „Tag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober 1990. Je länger die Zeit des vereinigten Deutschlands währt, desto deutlicher treten die einstmaligen Trennlinien zutage. Sie verlaufen genau da, wo bis zum 9. November 1989 Mauer und Stacheldraht Menschen willkürlich voneinander separierten.
Welche Statistik auch graphisch aufbereitet wird – immer ist Ostdeutschland sehr anders eingefärbt als die westdeutschen Bundesländer: Besitz- und Einkommensverhältnisse, Steueraufkommen, Firmensitze, Anteil von Ausländer/innen an der Gesamtbevölkerung. Ist Deutschland deswegen ein gespaltenes Land? Nein, das nicht. Aber wir sind ein Land, dessen beide Teile eine von 1945 her gesehen 44 Jahre andauernde getrennte Entwicklung aufweisen.
Die Folgen davon werden noch in Jahrzehnten spürbar sein – nicht zuletzt deshalb, weil die Lasten des 2. Weltkrieges zwischen Ost und West völlig ungleich verteilt waren. Während Westdeutschland durch die Einbindung in die westliche Staatengemeinschaft sehr bald am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben und die Menschen in einem durchaus widersprüchlichen Prozess durch freiheitliche Demokratie das autoritär-nationalistische Gehorsamserbe überwinden konnten, blieb Ostdeutschland wirtschaftlich und politisch bis 1989 in vollkommener Abhängigkeit von der Sowjetunion.
Allerdings: Die Unterschiede zu benennen ist das eine. Das andere ist, wie wir damit heute umgehen. Im Januar 2016 rief mich eine Journalistin vom Berliner „Tagesspiegel“ an. Sie fragte mich, ob ich bestätigen könne, dass ein Riss durch die Bevölkerung ginge; wie ich denn diese Spaltung beurteile. Gemeint waren die Folgen der sog. Flüchtlingskrise, insbesondere nach der sog. Kölner Silvesternacht.
Ich habe damals sehr verhalten reagiert. Innerlich sträubte sich bei mir alles, die immer stärker werdende mediale Stimmungsmache gegen Geflüchtete und die Politik Angela Merkels mitzumachen. Denn obwohl es viele kritikwürdige Unzulänglichkeiten in der Flüchtlingspolitik gab – für mich waren die Monate nach dem 4. September 2015 „kein Staatsversagen, wie so oft beschworen – es war vielmehr ein Staatsgelingen, es war Demokratie ohne Anleitung, es war ein Bürgertriumph, weil die Menschen von selbst das Richtige taten“ (Georg Diez, Das andere Land, Seite 47).
Also: Was sich im Verlauf der letzten drei Jahre in ganz Deutschland abgespielt hat, ist eine grandiose Erfolgsgeschichte der Demokratie. Diese lebt vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Da aber das irdische Leben bekanntlich sehr widersprüchlich verläuft, gehören die Verwerfungen zu dieser Erfolgsgeschichte dazu:
- die Häme zu vieler Meinungsmacher und Politiker, mit der sie das, was den „Bürgertriumph“ ermöglichte, nämlich die Moral, der Konsens über Grundwerte, zu diskreditieren versuchten. Dafür steht das schreckliche Wortungetüm „Gutmenschentum“;
- die Übergriffe rechtsradikaler Gruppierungen auf Geflüchtete und Asylunterkünfte;
- Kapitalverbrechen und Straftaten, die von Geflüchteten begangen wurden.
Das alles sind aber nicht Zeichen der Spaltung, sondern zunächst die traurige Kehrseite einer an sich erfreulichen Entwicklung. Entscheidend ist, was wir im demokratischen Diskurs zum Hauptthema machen. Da aber hat sich seit Jahren in Politik und Gesellschaft eine deutliche Verschiebung nach rechts ergeben – befördert auch durch den Bedeutungsverlust der Kirchen und die ideologische Leere in Ostdeutschland.
Diese Verschiebung steht in Widerspruch zu dem, wozu die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands nach wie vor bereit und in der Lage ist: eine menschenwürdige Aufnahme und Integration von Geflüchteten vor Ort zu fördern. Dafür sprechen u. a., dass Dreiviertel der Bevölkerung kein unlösbares Problem im Zusammenleben mit Geflüchteten sehen, und inzwischen über 300.000 Asylbewerber/innen einen Arbeitsplatz gefunden haben.
Warum dann aber die Rede von der Spaltung der Gesellschaft?
Sie hat vor allem ein Ziel: Menschen gegeneinander aufzubringen. Denn wer von Spaltung redet, will kein Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Er lehnt auch das Bemühen darum ab. Er will, dass diejenigen, die sich jenseits der von ihm willkürlich gezogenen „Demarkationslinien“ aufhalten, verschwinden und keine Möglichkeit haben, die Seiten zu wechseln.
Er will keine Begegnung, keinen Dialog, keine interkulturelle, interreligiöse Begegnung und keine Vielfalt der Kulturen und Lebensentwürfe in einem Land. Er kann im Blick auf das Anderssein nur in Abwehr reagieren: Antiislamismus, Antisemitismus, Antikapitalismus, Antikommunismus, Anti… . Demokratie aber bedeutet nicht Spaltung, sondern Beteiligung und Teilhabe; nicht Einförmigkeit, sondern Vielfalt; nicht Abgrenzung, sondern Integration; nicht Vernichtung, sondern Bewahrung durch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Wir leben nicht in einem gespaltenen Land – Gott sei Dank. Aber in unserem Land leben Menschen, die diese Spaltung wollen. Es sind die Mauerbauer von heute. Ihnen müssen wir die Kelle der Ausgrenzung und den Mörtel des Nationalismus aus der Hand nehmen. „Wir sind das Volk“ ist kein Schlachtruf des Nationalismus. Es ist der Ruf derer, die sich aus dem Korsett von Mauer und Stacheldraht befreien und eine plurale Gesellschaft aufbauen wollten; die teilhaben wollten an einem demokratischen Europa, Voraussetzung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor 28 Jahren.
Mit diesem Anspruch sollten wir heute auch dem anderen Aufruf von 1989 Nachdruck verleihen „Für eine freies Land mit offenen Grenzen“.
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