Der Rassismus ist eine moderne Erfindung. Das vergessen einige Leute, die heute so tun, als sei das schon immer ein Problem gewesen und man sei ja leider nur irgendwie geschichtlich damit vorbelastet. Der Rassismus wurde im 19. Jahrhundert erfunden – zusammen mit dem Nationalismus, der Staaten zu einer Art Aufbewahrungsanstalt für farblich gleich aussehende Untertanen erklärte. Mit der #MeTwo-Debatte kommt jetzt ja ganz Seltsames ins Rollen.
Harry Nutt in der „Frankfurter Rundschau“ findet, sie rege regelrecht dazu an, jetzt endlich einmal die versteckten Ressentiments zu benennen.
Bertram Eisenhauer in der F.A.Z. hat gleich mal angefangen, sich selbst zu bezichtigen. So nach dem Motto: Wenn wir mal richtig nachkramen, sind auch wir ein bisschen rassistisch. Was durchaus passieren kann, denn wir haben ja so ungefähr 130 Jahre eifriger Rassismus-Macherei hinter uns. Es ist ein sehr exemplarisches Beispiel dafür, wie man Menschen auf bestimmte Gedanken und Vor-Urteile programmieren kann.
Wie das seit 130 Jahren funktioniert, demonstriert Maria Mast in der „Zeit“ im Interview mit dem Sprachwissenschaftler Ekkehard Felder. Denn Vorurteile beginnen mit Sprache. Und zwar früh. Wir wachsen damit auf. Unser Umfeld prägt uns. Kein Vorurteil ist angeboren, auch wenn natürlich sämtliche Zivilisationen vor der unseren die Angst vor dem Fremden kannten. Auch sie schufen sich ihre Bilder. Und wer ein bisschen bewandert ist in den antiken Schriften, der weiß, dass die meisten dieser Vorurteile politisch gemacht wurden.
Sie waren Mittel zum Zweck. Das bekannteste Beispiel dafür, wie die Überzeichnung der „Feinde“ und „Barbaren“ als politisches Stilmittel eingesetzt wurde, sind Cäsars „Commentarii de bello Gallico“, der „Gallische Krieg“, im Grunde ein Musterbeispiel für politische und militärische Propaganda. Davon haben später ganze Propagandastäbe von Regierungen und Heeresleitungen profitiert.
Der gewöhnliche Bürger kennt natürlich das Befremden über die Fremden – wenn er ihnen begegnet. Die meisten ganz alten Geschichten über das Fremde sind Geschichten von Faszination, Beunruhigung, Märchenhaftigkeit und Exotik. Man wusste ja nicht, wie die anderen wirklich waren. Die Griechen waren darin, die Völker am Rand ihrer Zivilisation zu mythisieren, wahre Meister. Ihre ganzen Sagen leben davon.
Aber der Unterschied zu Cäsars Kriegsberichten ist augenfällig. Und auch ein anderes Buch, das ganz unschuldigerweise zum Material für Propaganda wurde, ist tatsächlich ein politisch gedachtes Zerrbild des Fremden: Tacitus’ „Germania“. Übrigens ein Buch, das zeigt, dass die Überzeichnung des Fremden vor allem auf die Politik im eigenen Land gerichtet ist – in diesem Fall als Verklärung des scheinbar einfacheren und urwüchsigeren Germanen im Vergleich zum kulturell verweichlichten Römer.
Womit die Germanen quasi zum Urbild des „edlen Wilden“ wurden, die dann von den Romantikern wieder aus der Versenkung geholt wurden. Und diese romantische Sicht auf den „edlen Wilden“ (man lese bei Karl May) schwingt seitdem immer mit, wenn in unseren Breiten über die Fremden geredet wird. Gefühle von Bewunderung und Scham mischen sich, denn alle Aspekte von vermeintlicher kultureller Überlegenheit unsererseits vermischen sich ja mit dem allerchristlichsten Zweifel daran, ob uns das dazu berechtigt, andere Leute für weniger wertvolle Menschen zu halten.
Die romantische und die imperiale Vorgeschichte unserer Sicht auf das Fremde vermischen sich. Als edel tauchen die entdeckten Wilden ja in der zugehörigen Literatur immer nur auf, wenn weiße Helden sich dort wie Sendboten einer höheren Zivilisation benehmen können – und natürlich wenn die Eingeborenen friedlich bleiben und Massa immer fleißig zu Diensten sind.
Aber zurück zu Eisenhauer und seiner Selbstbezichtigung. Kann es sein, dass dahinter nichts anderes steckt als genau diese alte, unverdaute Gemengelage?
Denn verdaut ist das ja alles nicht. Selbst in den Jahren, als Deutschland so gastfreundlich getan hat wie es konnte, schwang immer eine Note mit: Wir sind mal so gnädig. Wenn sie unsere „Leitkultur“ akzeptieren und sich anpassen und mindestens genauso fleißig sind wir wir, dann könnten wir uns auch durchringen, mal nett zu ihnen zu sein.
Wir sind gar nicht auf Augenhöhe. Unser Kopf steckt voller Bilder, die wir (noch) nicht hinterfragt haben, weil sie uns mitgegeben wurden als Reisegepäck.
Es geht auch beim rassistischen Sprechen um das, was Ekkehard Felder zum populistischen Sprechen sagt: „Populistisches Sprechen schürt Angst, grenzt aus und homogenisiert die Vielfalt der Interessen und Ideen.“ Es verwandelt unser Gegenüber in ein Abbild einer großen, simplifizierten Gruppe.
Wir nehmen ihn nicht als Persönlichkeit war, sondern sortieren ihn oder sie nach Hautfarbe, Sprachklang, Erscheinungsbild ein. Die zugehörigen Ängste und Vorurteile rattern durch unseren Kopf. Und noch ehe der andere den Mund aufgemacht hat, haben wir ihn schon einsortiert, abgewehrt und abgewertet.
Wenn ich „wir“ schreibe, trifft das natürlich nicht auf alle zu.
Einige von uns sind zumindest schon etwas aufmerksamer geworden. Das geht so nicht. Der Gegenüber ist immer ein Mensch wie ich. Vielleicht rattert es in seinem Kopf genauso ab. Die Gruppenabschottung ist schon im Gang. Und bei denen, die nicht stocken und sich selbst befragen, rattern dann natürlich auch gleich noch die bekannten Emotionen und Sprüche ab.
Von denen unsere Medienwelt voll ist. All diese Zuschreibungen haben nicht nur den von Felder benannten Zweck, Gruppen ab- und auszugrenzen und damit die zugehörigen Menschen zu entindividualisieren. Sie erzeugen auch sofort Feindbilder. Das geht alles mit Worten. Worte werten, sortieren, sperren ein. Die Strategie läuft auf Abschottung, Abwehr und Abschiebung hinaus, nicht auf Kontakt.
Deswegen wirkt sogar ein Film wie „E.T. – Der Außerirdische“ heute noch immer so peinlich. Denn augenscheinlich glauben ein paar Leute tatsächlich, sie könnten mit Außerirdischen Kontakt aufnehmen, wenn ihnen das nicht einmal mit Syrern, Chinesen, Irakern und Tunesiern gelingt. Schon die Herkunftsnamen lassen Schablonen aufklicken, stimmt’s?
Die vielen, vielen Medienberichte über Nordafrikaner aller Art (aber auch andere Völker wie Griechen, Italiener, Rumänen …) haben dafür gesorgt, dass wir die Welt in Schablonen sehen, besetzt mit Wertungen. Mit Ab-Wertungen. Selbst dann, wenn wir eher der romantischen Art, auf die „edlen Wilden“ herabzublicken, anhängen. Dann sind wir schon geneigt, die Edlen einmal wie geehrte Gäste zu behandeln – wenn sie dann nur wieder heimkehren und uns nicht mit ihrer Fremdheit behelligen.
Obwohl jeder, der mit ihnen wie mit richtigen Menschen umgeht, weiß, dass sie uns überhaupt nicht fremd sind. Die Exotik produzieren wir selbst und projizieren sie auf die Menschen, die wir gar nicht kennen. 99 Prozent von dem, was wir wahrnehmen, ist Projektion.
Was uns übrigens auch mit Inländern so geht. Das weiß jeder, der mal eine fremde Stadt besucht hat, egal, ob Köln, Duisburg oder Dresden. Man ist – manchmal aus gutem Grund – sehr vorsichtig beim Aussteigen und versucht erst einmal, das Fremde für sich einzuordnen. Es ist eine Mischung aus Faszination und Unsicherheit. Und die Spannung löst sich erst, wenn man mitkriegt, dass sich die Leute auch nicht anders verhalten als „daheim“.
Was übrigens in Städten wie Lyon, Mombasa und Moskau genauso ist.
Vielleicht mit dem Unterschied, dass man die landläufige Sprache nicht beherrscht und versuchen muss, sich mit Englisch durchzuschlagen – was dann, wenn man es macht, in der Regel dazu führt, dass man sich auf einmal herzlich willkommen fühlt. Wenn das nicht der Fall ist, könnte es sein, dass man in Nashville oder Berlin gelandet ist. Ist eben Pech.
Aber die schlichte Wahrheit ist: Das Fremdsein ist nicht das Problem der Fremden, sondern das Ergebnis unserer Vorurteile. Und es sind unsere eigenen Vorurteile, die uns die anderen anders werten lässt, anders sehen. Und die dann lauter Ängste produzieren, Unsicherheiten, das Gefühl, der Situation nicht Herr zu sein.
Herr in diesem Fall mal gemeint als: Herr unserer selbst, auf zwei Beinen stehend und eben nicht von Ängsten und Fluchtreflexen durchwindet.
Denn die werden ja immer aufgerufen, wenn wieder neue Geschichten mit „Ausländern“ drin aufgetischt werden. Rassismus spricht unsere eigene Nicht-Souveränität an. Unsere Nicht-Gelassenheit. Er heizt unsere Furcht an – und sorgt vor allem für eins: Dass wir die Angst vor dem Fremden nicht verlieren, dass wir uns nicht trauen, die geschützten Bereiche zu verlassen. Dass wir uns einigeln, einmauern und auch nicht einlassen, egal, auf wen. Tja, was kann man mit Menschen, die so tief in sich verunsichert sind, nicht alles anfangen? Alles, scheint es.
Sie haben ja alle nötigen Angstbilder in sich, die man einfach aufrufen kann. Und weil die Ängste jeden Tag gefüttert werden, trauen sie sich natürlich auch nicht hinaus, um Kontakt aufzunehmen und vielleicht zu lernen, dass jeder Fremde anderes fremd ist – und doch in den meisten Dingen ziemlich vertraut. Wenn man denn mal drüber spricht. Denn nur, was wir nicht kennen, bläst sich in unseren Köpfen zu einer riesigen Gefahr auf.
Aber davon lebt Rassismus. Von der Angst. Angst aber lähmt. Sie verwandelt Menschen in Feiglinge und Verführbare, die nur noch wie gebannt auf das albtraumhaft überzeichnete Fremde starren, das an der Wand immer bedrohlicher erscheint. Sie sehen nicht mehr den genauso vom Leben gebeutelten Menschen im anderen, sondern das Abbild der Erzählungen von Fremden, die homogenisierte Gruppe.
Oder besser: die homogenisierten Gruppen. Denn wer die anderen rassistisch in einen Topf schmeißt, verwandelt auch die eigene Gruppe in einen homogenen Brei, in dem das Individuum verschwindet. Was ja die zum Gähnen öde Rückseite des Rassismus ist – er verwandelt auch die eigenen Leute in einen schalen Einheitsbrei. Sozusagen alles eine Pressung. Lauter Klone des sauerkrautigen Urtyps.
Aber wer reist weiß selbst, dass sich etliche Exemplare in der Welt tatsächlich so benehmen und aufführen.
Aber das ist eine eigene Geschichte.
Die Serie „Nachdenken über …“
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