Man liest und staunt. Emsig sind die groรŸen Zeitungen im Land schon mal dabei, das von Sahra Wagenknecht und Oscar Lafontaine initiierte Projekt #aufstehen abzumoderieren. Und sie kratzen alle Statements zusammen, die sie insbesondere aus deren Partei, der Linkspartei, bekommen. Das Ergebnis sieht dann so aus wie auf Zeit.de: โ€žLinke-Politiker distanzieren sich von โ€šAufstehenโ€˜โ€œ. Man fรผhlt sich geradezu ins Zeitalter Stalins und Ulbrichts zurรผckversetzt. Von Abweichlern distanziert man sich nun mal.

Was irgendwie nur noch peinlich wirkt. Nicht mal von Neonazis erwartet man das. Aber die Linken aller Art werden fortwรคhrend zum Kotau gebeten.

Wer genau hinschaut sieht, dass โ€žDie Zeitโ€œ auch nicht wirklich recherchiert hat, sondern nur lauter Agenturmeldungen, die irgendwas mit Linkspartei und #aufstehen zu tun haben, zusammengerรผhrt hat. Die Quellen: ZEIT Online, dpa, AFP, kat.

Logisch, dass immer wieder dieselbe SoรŸe dabei herauskommt. Und so eine Art falscher Trรคnen fรผr die armen Linken, die sich jetzt mit dieser querulantischen #aufstehen-Sache herumschlagen mรผssen. Was dabei herauskommt, weiรŸ sowieso kein Mensch. Die Zahl der Initiativen, die in Deutschland systematisch in Grund und Boden geschrieben wurden, ist ja lรคngst Legion โ€“ von Occupy bis Attac.

Das Vorbild fรผr das, was alle vermuten, was Sahra Wagenknecht da vorhat, ist unรผberlesbar eine franzรถsische Bewegung: Nuit debout. Sie sorgte 2016 fรผr Schlagzeilen, weil sich die Bรผrger Frankreichs nach Feierabend auf StraรŸen und Plรคtzen friedlich zusammenfanden, um ihren Frust รผber die herrschende erstarrte Politik zu artikulieren. Ein Frust, den dann ein gewisser Emmanuel Macron fรผr sich zu nutzen wusste, um mit einer neu gegrรผndeten Partei namens โ€žEn Marcheโ€œ รผbermรคchtig die Prรคsidentschaftswahlen und die Wahlen zur Nationalversammlung zu gewinnen. Einer Partei, die zwar รผberall das Label โ€žReformโ€œ draufkleben hatte, aber im Grunde ein neoliberales Politikprogramm verfolgt.

Aber gewinnen konnte Macron, weil die Franzosen ganz unรผbersehbar mit dem alten Politikklรผngel nichts mehr zu tun haben wollten. Politik lebt nun einmal auch mit erlebbaren Verรคnderungen, von dem wichtigen Gefรผhl, dass die Dinge noch verรคnderbar sind und die Bรผrger wirklich etwas รคndern kรถnnen, wenn sie zur Wahl gehen.

Da geht es den Franzosen wie den Deutschen.

Nur dass der Frust in Frankreich schon lรคnger gรคrte. Wofรผr ja exemplarisch der 2010 verรถffentliche Essay von Stรฉphane Hessel โ€žEmpรถrt euch!โ€œ (โ€žIndignez-vous!โ€œ) steht.

Den โ€žZeitโ€œ-Artikel, der ja nur einer unter hundert รคhnlichen ist, fasse ich einfach mal unter der treffenden รœberschrift โ€ž#bittesitzenbleibenโ€œ zusammen. Denn das ist der Impetus: die Luft rauslassen, die Sache schon mal fรผr irrelevant erklรคren. Und vor allem den eigenen Lesern das Gefรผhl geben: Das muss euch nicht kรผmmern. Bleibt zu Hause. Bleibt sitzen in eurem Fernsehsessel.

Als hรคtte die oberste Regie mal wieder in den Maschinenraum heruntergerufen: Macht mal nicht die Leute wild. Fast hรคtte man ja den Verdacht gehabt, die โ€žZeitโ€œ wolle tatsรคchlich mal die Leute zum Reden bringen โ€“ etwa in den Serien wie โ€žDeutschland spricht 2018โ€œ oder โ€žErfinde eine bessere Zukunftโ€œ, was dann aber schon in die รผbliche Masche der betreuten Jugendkultur abdriftet. So ungefรคhr, wie โ€žBรผrgerbeteiligungโ€œ meistens ablรคuft โ€“ alles freundlich einsammeln, an Pinnwรคnde heften, dann schรถn abwรคgen und glattbรผgeln. Und was am Ende rauskommt, passt dann immer erstaunlich zu dem, was am Anfang von den gnรคdigen Veranstaltern erwartet wurde.

Das ergibt dann natรผrlich so eine Art Hรคndchen-fass-Demokratie, bei der dann auch einmal ein paar Schwergewichte aus dem Cockpit der Politik auftauchen, sich volkstรผmlich, nett und umgรคnglich geben und zumindest fรผrs Pressefoto auch selbst mal Hรคndchen halten.

Und das warโ€™s.

Claudio Capeo: Un homme debout.

Placebo-Beteiligung. Alles professionell und raffiniert organisiert. Und dann macht es โ€žPffffftโ€œ und die, die sich eben noch freudig engagiert haben, stehen da mit dem schรคbigen Gefรผhl, im falschen Film zu sein. Sie wurden wieder rausmoderiert.

Und das nicht nur, weil Regierungspolitik sich auch erst einmal als Sparringpartner aufstellt. Das ist ja ganz okay. Aber die Regierenden haben auch das ganze Repertoire der ร„mter und Behรถrden fรผr sich, sรคmtliche Paragraphen, Vorschriften und Unkritisierbarkeiten. Das merkt ja jeder, der sich einmal versucht รผber Verfehlungen in ร„mtern irgendwo in der Behรถrdenhierarchie zu beschweren. Dann passiert nรคmlich โ€“ nichts. Gar nichts.

Amtsinhaber sind heilig und unangreifbar. Wenn einer nicht die Mittel hat, direkt vor Gericht zu ziehen und die Verwaltungen zu verklagen, รคndert sich nichts. Und auch da muss er damit rechnen, dass mit Steuergeldern hochbezahlte Anwaltskanzleien dafรผr sorgen, dass die Klage abgebรผgelt wird.

ร„mter sind sakrosankt und Amtsinhaber unantastbar. Das wusste schon Kafka. Was jetzt zwar ein Nebengedanke ist, aber man darf nicht vergessen, dass die heutigen Bรผrokratien kein Ergebnis von Revolutionen sind, sondern Erbmasse. Sie haben sich alle aus feudalen Zeiten herรผbergerettet. Und damit auch ihr Amts- und Machtverstรคndnis.

Was eben vielen Bรผrgern das dumme Gefรผhl gibt, einem gefรผhllosen Moloch gegenรผberzustehen. Und damit der eigentlichen Macht. Ohne zu erfahren, was warum wirklich entschieden wurde. Denn das wird selten bis nie erklรคrt. Das lรคuft dann unter Dienstgeheimnis, erst recht, wenn auch noch ein paar โ€žWirtschaftsinteressenโ€œ dabei sind.

Aber wie gesagt: Das wรคre ein Nebenstrang.

Bei โ€žNuit deboutโ€œ ging es eigentlich zentral um etwas ganz Wesentliches: Dass Bรผrger wieder beginnen, ihre handelnde Rolle in der Gesellschaft zurรผckzugewinnen, zur โ€žgemeinsamen Sacheโ€œ zu machen, wie das eigentlich mal mit โ€žPolitikโ€œ gemeint war. Und was nicht nur in Frankreich auf Abwege geriet, weil eine ziemlich kleine Elite den Zugriff auf die Macht und die entscheidenden (im doppelten Sinn) Funktionen hatte. Und wohl auch noch hat. Mit Macron hat sich viel weniger geรคndert, als mancher gehofft hatte, als er dort sein Kreuzchen machte.

Macron hat gewissermaรŸen den Rahm abgeschรถpft, die Stimmen der Enttรคuschten gesammelt und von dem weitverbreiteten Wunsch nach einem anderen Politikstil profitiert. Was im eher linken Wรคhlerlager mittlerweile fรผr regelrechten Frust sorgt. Denn eine andere Politik ist das nicht geworden, schon gar keine offenere.

Was in Frankreich รผbrigens dazu fรผhrt, dass die Menschen wieder zu โ€žNuit deboutโ€œ gehen, nicht nur in Paris, auch in Nanterre, Rennes, Lyon โ€ฆ, wie โ€žLe Figaroโ€œ schreibt.

Als wรคre eben dieses Showman-Wunder Macron nicht das, was sich die Bรผrger gewรผnscht haben. Augenscheinlich gehรถrt auch Emmanuel Macron zu denen, die zwar wissen, wie man die heutige Politik-Show fรผr sich nutzen und die Erwartungen der Menschen mit einem โ€žHoffnungstrรคgerโ€œ fรผllen kann.

Aber wenn diese Hoffnungstrรคger dann an der Spitze sind, erweisen sie sich meistens als Karrieristen im eigenen Auftrag โ€“ egal, ob in ร–sterreich, Italien, den USA oder Frankreich. Diese Leute stehen fรผr ein antrainiertes Wissen um die Mรถglichkeiten, die heutigen medialen Angebote hochprofessionell zum Sprung an die Macht zu nutzen.

Aber ihnen fehlen fast durchweg die Programme, die Visionen, die durchdachten Lรถsungen.

Und dazu kommen leider die Unfรคhigkeiten zur Kommunikation und zur Korrektur. Man hat Talkshow-Politik gelernt. Aber man besitzt keine Lรถsungskompetenz.

Was die neuen Shooting-Stars erstaunlicherweise mit vielen alten Funktionstrรคgern gemein haben. Leuten, die zwar schon seit Jahrzehnten in den politischen Himmeln herumgeistern, aber trotzdem durch Unwilligkeit zur Problemlรถsung auffallen.

Was sich eigentlich im Kern trifft mit dem, was Occupy genauso umtrieb wie Nuit debout. Viele gerade junge Menschen halten es nicht mehr aus, dass die Probleme, die ihnen das Leben schwer machen oder echte Zukunftssorgen bereiten, einfach nicht angepackt werden. Die dafรผr Gewรคhlten legen keine Lรถsungen vor, machen keine Vorschlรคge, wie man die Sache anpacken kรถnnte. Es ist nicht allein Angela Merkel, die mit ihrem โ€žalternativlosโ€œ unangenehm aufgefallen ist. Der zitierte โ€žZeitโ€œ-Artikel suggeriert ja genau dasselbe. (Und FAS und โ€žFrankfurter Rundschauโ€œ haben es genauso gemacht.)

"Nuit debout" 2016 in Leipzig. Foto: Michael Freitag
โ€žNuit deboutโ€œ 2016 in Leipzig. Foto: Michael Freitag

Oder mal Dante Alighieri zitiert: โ€žNur ewiges, und ich muss ewig dauern. / Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!โ€œ

Nicht ganz grundlos ist Kafkas Schilderung der Kleinen-Bรผrger-Hรถlle vom selben Kaliber. Der verstรถrte K. bekommt keine Antworten, bekommt die Grรผnde nicht erklรคrt und auch nicht das Urteil. Das ist die eigentliche Hรถlle: dem Unfasslichen hilflos ausgeliefert zu sein und nichts tun zu dรผrfen.

Ob #aufstehen wirklich mal eine linke Sammlungsbewegung wird โ€“ keine Ahnung.

Es ist auch egal.

Denn im Kern geht es um einen ganz zentralen Wunsch, der immer mehr Bรผrger umtreibt: den Wunsch nach einer Politik, die endlich wieder Lรถsungsvorschlรคge macht und die Bรผrger mitnimmt in die Diskussion der Alternativen und die die gemeinsamen Gรผter nicht als Privateigentum der Politik betrachtet, die die Bรผrger nichts angehen.

Und alles, was emotional damit zu tun hat, zeigt Claudio Capรฉos Videoclip sehr anschaulich, verรถffentlicht natรผrlich im Frรผhjahr 2016, als Nuit debout Frankreich in Aufregung versetzte.

Die Serie โ€žNachdenken รผber โ€ฆโ€œ

Hรถrt endlich zu! โ€“ Frank Richters Appell, die Demokratie wieder mit ehrlichen Debatten zu beleben + Video

Hรถrt endlich zu! โ€“ Frank Richters Appell, die Demokratie wieder mit ehrlichen Debatten zu beleben + Video

 

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