Am 1. Juli war die Foto-Ausstellung auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz noch zu sehen: „Zerrissene Gesellschaft“, einmal als Foto-Text-Essay für das Jahr 1990 gestaltet. Einem Jahr voller Widersprüche. Und einem Jahr, das augenscheinlich auch einige der Grundfehler zeigt, die dazu geführt haben, dass es in der Bundesrepublik des Jahres 2018 kriselt und wütet. Sogar in der Fußballnationalmannschaft, die die meisten Berichterstatter seit 2006 geradezu zum gesamtdeutschen Nationalkleber erklärt hatten.
Der Lack ist ab, seit die Nationalmannschaft bei der WM in Russland in der Vorrunde so ernüchternd ausgeschieden ist. Was natürlich auch eine gewisse Normalisierung ist. Das ist Sport. Es gibt kein Land, das dauerhaft einen Platz in der Endrunde pachten kann. Es sei denn, es dopt wie blöde. Oder es investiert richtig Geld in den Nachwuchs. Mal ganz davon abgesehen, dass Fußball längst nur noch eine Art Zirkus ist für die Massen, in dem das Nationale so eine Art bunter Schminke und kochende Würze ist.
Wenn man Fußball als eine Art Ersatzdroge für nationale Traumtänze benutzt, kommt natürlich so ein Lamento dabei heraus, wie man es seit Tagen lesen, hören und sehen kann. Als seien die Kommentatoren höchstselbst beleidigt, dass sie von scheinbar winzigeren Fußballnationen aus dem Turnier gekickt wurden.
Aber selbst der Kreisliga-Trainer weiß, dass diese ganze Lokal-Arroganz nicht die Bohne wert ist, wenn er die elf frechen Jungen auf dem Bolzplatz nicht zu einer richtigen Mannschaft macht. Einer, in der sich alle blind auf die anderen verlassen können.
Und mal ehrlich: Die Deutschen sind keine Mannschaft.
Sie sind ein Lümmelhaufen, in dem jeder mit Lust über den anderen herfällt und zeigt, was für ein Macho er ist. Das ist ja das deutsche Drama, das auch die „Zeit“ in ihrer Analyse zum Löw-Nicht-Rücktritt auf den Punkt gebracht hat. Auf dem Bildschirm war zu besichtigen, was in Deutschland politische Realität ist. Da brauchte es nicht mal einen holzenden Horst, um das sichtbar zu machen.
Die Mannschaft „spielte langsam und ideenlos, es gab taktische Defizite in allen Mannschaftsteilen. Was es nicht gab: Teamgeist und Hingabe. Mannschaft, Verband und nicht zuletzt der Trainer hinterließen einen überheblichen Eindruck.“
Sage jetzt einer, dass diese Einschätzung NICHT auf die deutsche Bundesregierung zutrifft. Und auf etliche unserer Parteien, denen der Erhalt (oder der Gewinn) von Posten und Einfluss wichtiger ist, als mal für ein gutes Spielergebnis so richtig Mut, Engagement und Kampfgeist zu zeigen.
Kläffende Hunde sind jede Menge da. Aber Kämpfer?
Was natürlich auch mit der Konstruktion unseres Parteiversorgungssystems zu tun hat: Wer verliert und gestürzt wird, fliegt praktisch gleich aus dem Team. Der kann froh sein, wenn er dann noch in einem großen Unternehmen als Berater oder Aufsichtsrat unterkommt. Unsere Parteien spielen so, als wäre jede Niederlage schon ein „Daumen runter“ durch den Wähler. Motto: Schade, war wohl nix, wählen wir doch lieber ein anderes Thema. Eins, das im Zirkus mehr Effekt macht.
Dass Fußball und Politik Ereignisse sind, die einen langen Atem brauchen, ist augenscheinlich nicht mal den Handelnden bewusst. Jedes Lüftchen pustet sie um. Und wenn die Berserker losrennen und brüllen „Flüchtlinge weg! Merkel weg!“, stimmen sie ein und rennen den Berserkern hinterher.
Und da sind wir in diesem verflixten Jahr 1990, in dem so vieles falsch gemacht wurde. Darüber haben wir auch oft genug geschrieben, auch über jene letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére, die bis zum Sommer 1990 tatsächlich ein gutes und kluges Team-Spiel hinlegte. In den Interviews, die der Mitteldeutsche Verlag veröffentlicht hat, ist das ja nachzulesen.
Und dann rückte der Herbst immer näher und mitten im deutsch-deutschen Einigungsprozess ging das Geholze los, profilierten sich die Fußballer der schwarzen Mannschaft gegen die der roten, bis die SPD-Minister völlig frustriert aus der Regierung austraten.
Ein bisschen davon war seit dem 19. Juni auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz in der Installation mit Fotografien von Andreas Rost, Textcollagen von Elske Rosenfeld und Notizen aus dem Jahr 1990 von Christian Borchert und Texten von Jan Wenzel zu sehen. Der Rasen erzählt davon, wie viele Leipziger sich für diesen Blick zurück ins Jahr 1990 interessiert haben.
Welchen Bogen die Installation spannte, beschreiben die Veranstalter des Fotografie-Festivals f/stop, zu der auch die Installation gehörte, so:
„Das Jahr 1990, dessen Verlauf sich aus einer Folge abgerissener Entwicklungen zusammensetzt, führt ein Nachleben: Im Winter die Erstürmung der Stasizentralen und die Arbeit an einer neuen, demokratischen Verfassung durch den Runden Tisch. Anfang März die Gründung einer Treuhandgesellschaft, die das Volkseigentum, ein abstraktes ‚Eigentum aller‘, in eine im Westen übliche Rechtsform überführen soll.
Volkskammerwahl am 18. März. Währungsunion im Sommer. Die Vorbereitung der Vereinigung, deren Zeithorizont sich mehrfach verkürzt, bis der Termin letztlich auf den 3. Oktober fällt. Und bereits zwei Monate danach die erste Bundestagswahl des wiedervereinigten Deutschland. Ein Irrtum zu glauben, dass irgendeines dieser Ereignisse wirklich abgeschlossen wäre. Nachrichten bemessen Aktualität nach Tagen. Aber das ist falsch.“
Geschichte geht nicht zu Ende, sie webt immer weiter fort. Und die Mannschaften auf dem Feld gestalten sie. Egal, was sie machen. Wenn sie unfähig zum Mannschaftsspiel sind, wird es eine fortwährende Klopperei. Dann gibt es mit der Zeit auch immer mehr aus dem Spiel getretene Spieler, die die Nase voll haben und das Spiel als unfair und nur noch frustrierend betrachten.
„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner.
„Und das, was wir Geschichte nennen, ist letztlich nichts anderes als die Strahlenkunde der Gesellschaft. Die Ereignisse des Jahres 1990 wirken bis in die Gegenwart und noch weit darüber hinaus“, heißt es in der Beschreibung der Festival-Macher. „Für f/stop In Situ nimmt das Festival das Jahr 1990 in den Blick. Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, fällt auf, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Jeder kann sich die Ereignisse des Herbstes ’89 ins Gedächtnis rufen, während das Jahr 1990, das in seinen Entwicklungslinien immer wieder abreißt, oft unfassbar bleibt, nicht erzählbar ist.
Ähnlich wie Kinder sich an nichts erinnern können, was vor ihrem dritten Lebensjahr geschehen ist, scheint auch das Jahr 1990 für viele Ostdeutsche eine verschüttete Zeit zu sein; und wie die ersten Lebensjahre die emotionale Basis jedes Menschen bilden, haben sich auch die Erfahrungen des Jahres 1990 – all die Hoffnungen, Ängste, Glücksversprechen und Kränkungen – tief in den Gefühlen und Haltungen abgelagert.“
Genau dahin verlagert sich ja geschichtliche Erfahrung, wenn einem die Klopper auf dem Feld klarmachen, dass man bitteschön nicht mitzuspielen habe. Motto: Wir machen das schon. Allein. Wir sind die Größten.
Aber man kann nicht für andere Geschichte machen. Das geht schief. Entweder ist man mittendrin und macht mit und findet bei den anderen Mitspielern echte Anspiel-Partner. Oder es verbreitet sich genau der Frust, den es derzeit nicht nur in Deutschland gibt. Denn die Gesellschaftsordnung, die sich seit 1990 wie Mehltau über alle westlichen Nationen gelegt hat, ist eine Ordnung der Elite-Spieler und des Ellbogens. Ganze Bevölkerungsteile werden ins Abseits gestellt.
Was da für ein Team-Geist entstehen soll, ist wirklich die Frage.
„Wer sich mit dem Erfolg populistischer Bewegungen in Ostdeutschland auseinandersetzen will, muss das Jahr 1990 freilegen. Fotografie kann bei dieser Rückkehr in die Vergangenheit eine Hilfe sein, denn sie zeigt ‚das Reale, wie es gewesen ist. […] Unnachgiebig graviert sie [die Fotografie] die Markierungen des Gewesenen in das ein, was wir jetzt sind und vielleicht nicht mehr sein wollen. Gegen unseren Willen kommt zu uns zurück, wovon wir uns losreißen wollten‘“, zitieren die Festival-Macher den französischen Philosophen Didier Eribon.
Es ist schon erstaunlich, dass es 27 Jahre gedauert hat, bis überhaupt jemand akzeptierte, dass das wohl ein gewisses Manko in der neuen deutschen Geschichte ist. Da half den Ostdeutschen auch nicht, das westliche Jeder-gegen-jeden-Denken zu verinnerlichen und sich für jede Wettbewerbs-Verschärfung bereitzuerklären. Denn wenn alle und alles in verschärften Wettbewerb gegeneinander geschickt werden, werden fortwährend neue Verlierer produziert.
Wie die Deutschen dabei denken, wurde nach der kleinlichen Häme im Sieg über Schweden deutlich. Mit Fairplay oder Sportsgeist hatte das sichtlich nichts mehr zu tun. Eher mit der Arroganz von Leuten, die glauben, sich mit (fremder Leute) Geld alles kaufen zu können und die Gegner auf dem Platz für Gauchos halten zu dürfen. Es ist dasselbe Denken, das auch in der Flüchtlingspolitik sichtbar wird.
Und da sind wir bei diesem schönen, seit 2006 wieder allgegenwärtigen neuen deutschen Nationalismus, in dem sich einerseits eine Überheblichkeit manifestiert, die keinem Land auf dieser Erde zusteht. Und in der sich vor allem die gesellschaftliche Unfähigkeit zum Fairplay, zum Respekt vor jedem menschlichen Gegner zeigt.
Was Michael Herl in seinem Kommentar für die FR „Die deutsche Großkotzigkeit einstampfen“ berührt hat.
Deswegen können wir auch nicht wirklich schön feiern, weil wir die anderen in diesem nun doch wirklich so einfachen Team-Wettbewerb nicht respektieren, nicht wahrhaben wollen, dass wir menschlich gesehen auf genau derselben Stufe stehen, kein bisschen besser. Auch wenn wir uns das einbilden und glauben, uns nicht mehr richtig anstrengen zu müssen auf dem Platz.
Der bunt angemalte Nationalismus ersetzt weder Respekt noch Fairness. Und das gilt auch im deutsch-deutschen Klein-Klein. Denn eines findet man dort noch seltener als auf dem Fußballplatz: „Teamgeist und Hingabe“, wie die „Zeit“ schreibt. Die sind im Sommer 1990 einfach wieder dem Tagesgeschäft geopfert worden. Oder der Parteiraison, egal wie man das nennt, wenn es wieder nur um Macht, Geld und Rang geht. Und nicht um gemeinsame Ideen für eine gemeinsame Zukunft …
Wenn man das nur hinschreibt, bekommt man das dumme Gefühl, dass das kleine Neu-Fünfland-Beiboot zwar am dicken Tanker vertäut wurde, nur mit rauf aufs Deck sollten die Beigebooteten nicht. Und eine gemeinsame Vision von dem Ziel, wo der Dampfer nun hinfahren sollte, haben wir bis heute nicht. Wir dampfen eben. Manchen reicht das. Aber es begeistert keine Sau.
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