Da hat Christian Wolff, der emsig weiter das Tagesgeschehen kommentierende vormalige Thomaspfarrer, wohl genau die wunde Stelle getroffen, als er sich am 20. Juli einmal etwas kritischer mit der zumindest eigentümlichen Geschichtsauffassung des Leipziger Maler-Stars Neo Rauch beschäftigte. Was er da aus einem Interview des „Handelsblatts“ zitierte, hatte es schon in sich. Nur in Franken am Wagnerhügel hat man die Sache wohl nicht wirklich verstanden. Man glaubt dort tatsächlich, in Leipzig schriebe man über Neo Rauch, um in Franken irgendwelche Aufmerksamkeit zu ernten.

Oder einmal Christoph Hägele zu zitieren, der auf InFranken.de den Beitrag „Neo Rauch und die Wiederverzauberung der Welt“ schrieb: „Rauchs dem ‚Handelsblatt‘ in den Block diktierte Aussagen nahm wenig später Christian Wolff zum Anlass, um in einem Gastbeitrag für die ‚Leipziger Internet Zeitung‘ den Maler in die Nähe der rechtspopulistisch grundierten Demokratieverachtung zu rücken. Falls der ehemalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche allerdings darauf spekuliert haben sollte, dass Rauchs Engagement in Bayreuth – Hitler, Wagner, Sie wissen schon – seinen eigenen Thesen Popularität verschafft, sah er sich getäuscht. Was Rauch über Tellkamp, und Wolff in der Folge über Rauch dachte, ist bis hoch auf den Grünen Hügel offenbar erst gar nicht vorgedrungen. Stattdessen begeisterte sich das Premierenpublikum am Mittwoch über das bestürzend schöne Bühnenbild des ‚Lohengrin‘.“

Unser Martin Schöler, der vor Ort die diesjährigen Wagner-Feiern beobachtet, hat sich auch irgendwie begeistert: „Das Resultat der vergleichsweise kurzen Zusammenarbeit ist eine wundersame Phantasiewelt, die sich ästhetischer Versatzstücken des Mittelalters und der Romantik bedient, spürbar aber auch durch zeitgenössische Fantasy-Epen wie beispielsweise ‚Game of Thrones‘ beeinflusst worden ist“, schreibt er in seiner „Lohengrin“-Kritik.

Aber wer Christian Wolffs Beitrag liest, merkt nicht unbedingt den Wunsch, ausgerechnet auf dem Grünen Hügel wahrgenommen zu werden.

Hätte Rauch nur über das Kunstmachen gesprochen, hätte ihn das Interview im „Handelsblatt“ auch nicht so geärgert. Vor allem, weil Neo Rauch sich mit seinen dortigen Aussagen selbst widerlegt.

Er hat ja nicht nur dem „Handelsblatt“ seine Betrachtungen zu Politik und Zeit „in den Block diktiert“, er hat – gemeinsam mit Rosa Loy und dem „Lohengrin“-Regisseur Yuval Sharan – auch der „Zeit“ ein Interview gegeben.

Und da versuchte er sich als eine Art vom Zeitgeist gar nicht betroffener Künstler darzustellen.

„Widerstand im Sinne einer Position, die sich nicht dem Strom der Zeit beugt, sondern die aufrecht steht und Wirbel bildet, ja, Kunst ist absichtslos. Sie darf nicht irgendwelchen Zwecken dienen“, sagt er da. „Sie entsteht aus der inneren Notwendigkeit heraus, hochzuklappen aus dem Plankton, das den Strom der Zeit als Transportmedium nutzt und sich als der allgemeinen Tendenz widerstrebendes Element zu erkennen gibt.“

Und das ist ihm durchaus abzunehmen. So kann man versuchen, seine Position als Künstler zu finden. Und das macht auch einen großen Reiz seiner Arbeiten aus – das Unausdeutbare, Ungreifbare, Erlkönighafte – das den deutschen Bildungsbürgern seither so gut gefällt. Den Dresdnern besonders. Das passt schon mit Tellkamp. Und es wundert auch nicht, dass Neo Rauch sich genau in die Epoche zurücksehnt, in der die deutsche Spätromantik geboren wurde: das frühe 19. Jahrhundert. Die Zeit der Lützower und dem, was einige Professoren noch immer gern „Befreiungskriege“ nennen.

Im „Zeit“-Interview sagt er: „Für mich sind sie eine Art Sehnsuchtszone, in die ich mich in schwachen Momenten zurückziehe. Vielleicht habe ich schon einmal eine Existenz fristen dürfen. Es tauchen hin und wieder auch preußische Landsturm-Männer auf oder zumindest Figuren, die so interpretiert werden können. Dieser nationale Zusammenhalt gegen Napoleon, dieser Befreiungskrieg, rührt mich immer noch an. Darüber hinaus ist es in formal-ästhetischer Hinsicht eine Zeit, in der ich lieber leben würde als in der heutigen. Da war alles noch in bester Ordnung. Es gab keine einzige hässliche architektonische Ausformung. Es war alles einem harmonischen Maß unterworfen.“

Was schon verblüfft. Einige Zeitgenossen dieser dann von den Karlsbader Beschlüssen gekennzeichneten Zeit hätten sie ganz bestimmt nicht als „alles in bester Ordnung“ beschrieben. Etwa Heinrich Heine, der aus dieser „besten Ordnung“ lieber floh, weil er die ganze nette preußische Zensur kennenlernte. Es gibt erstaunlicherweise immer wieder Künstler, die sich ganz und gar nicht in Märchentürmen und Ritterburgen einrichten können, wie das die großen deutschen Spätromantiker alle taten – Dichter wie Tieck und Maler wie Schwind und Runge und wie sie alle hießen.

Und gleich zum Einstieg in seine „Romantische Schule“ (1833) beantwortete Heine selbst die Frage: „Was war aber die romantische Schule in Deutschland?“

„Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte. Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen. Ich weiß nicht, ob die melancholische Blume, die wir in Deutschland Passionsblume benamsen, auch in Frankreich diese Benennung führt, und ob ihr von der Volkssage ebenfalls jener mystische Ursprung zugeschrieben wird.

Es ist jene sonderbare mißfarbige Blume, in deren Kelch man die Marterwerkzeuge, die bei der Kreuzigung Christi gebraucht worden, nämlich Hammer, Zange, Nägel usw., abkonterfeit sieht, eine Blume, die durchaus nicht häßlich, sondern nur gespenstisch ist, ja, deren Anblick sogar ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele erregt, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen. In solcher Hinsicht wäre diese Blume das geeignetste Symbol für das Christentum selbst, dessen schauerlichster Reiz eben in der Wollust des Schmerzes besteht.“

Und Wagners „Lohengrin“-Stoff stammt genau aus dieser Welt. Deshalb kann sich Neo Rauch damit auch so gut arrangieren. „Woher nimmt Lohengrin die Kraft?“, fragt die „Zeit“. Und Neo Rauch antwortet: „Vom Gral. Vom ewig Unergründbaren. Das ist der romantische Kern der Geschichte, der sich auch nicht freilegen lassen sollte.“

Selbst Neo Rauchs seltsamen „nationalen Zusammenhalt“ hat Heine, der ja nun wirklich näher dran war an den Ereignissen, ganz anders in Erinnerung.

„Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joche zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulang ertragenen Knechtschaft, und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.“

Als hätte Heinrich Heine seine „Romantische Schule“ extra für Leipzigs berühmten Maler geschrieben.

Bissig. Und ganz und gar nicht „absichtslos“. Denn da täuscht sich Neo Rauch. Sein „Handelsblatt“-Interview widerlegt ihn ja. Auch seine Kunst hat Absicht. Nichts daran ist absichtslos, auch wenn er in der märchenhaften Überhöhung ein Meister ist. So wie Wagner.

Aber bei Heine wäre er damit schlecht angekommen. Der hielt von diesem Mystizismus nämlich nichts.

„Die Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nämlich mit dem Strom, der nach seiner Quelle zurückströmte. Als endlich der deutsche Patriotismus und die deutsche Nationalität vollständig siegte, triumphierte auch definitiv die volkstümlich-germanisch-christlich-romantische Schule, die ‚neudeutsch-religiös-patriotische Kunst‘. Napoleon, der große Klassiker, der so klassisch wie Alexander und Cäsar, stürzte zu Boden, und die Herren August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die kleinen Romantiker, die ebenso romantisch wie das Däumchen und der gestiefelte Kater, erhoben sich als Sieger.“

Es hilft nichts. Es gibt keinen Grund, die Befreiungskriege und die schäbige und enge Zeit danach zu verklären, weil „alles in bester Ordnung“ schien. Es war eine zensierte Ordnung. Wer sich nicht anpasste, bekam es mit der preußischen und Metternichschen Gesinnungsschnüffelei zu tun. Wer sich danach zurücksehnt, hat zumindest ein etwas rudimentäres Verständnis von der deutschen Geschichte und dem Jubel der „Befreiungskriege“, nach denen hinterher die Herren Fürsten ihr Versprechen für eine richtige Verfassung fast alle brachen. Aber vielleicht kam Neos Geschichtslehrer nie an diese Stelle. Oder er war selbst ein etwas rosabebrillter Romantiker.

Und Richard Wagner steht mit seinem „Lohengrin“ natürlich in der spätromantischen Tradition. Wer so schön von „absichtslos“ spricht, landet keineswegs in einem von der Zeit abgeschotteten Raum, sondern in einem der Verklärung. Dann wird ein Heilsbringer wie Lohengrin auf einmal zum großen Energie- und Lichtbringer. Da ist die ganze Erlösungshoffnung drin. Und Heine zeigt sich in der „Romantischen Schule“ mehr als überrascht, dass ausgerechnet der Großromantiker Ludwig Tieck den „Don Quijote“ von Cervantes übersetzt hat.

Und weil das eine Pointe ist, die sich für gewöhnlich tief im Zweiten Buch der „Romantischen Schule“ versteckt, kramen wir sie hier mal raus: „Spaßhaft genug ist es, daß gerade die romantische Schule uns die beste Übersetzung eines Buches geliefert hat, worin ihre eigne Narrheit am ergötzlichsten durchgehechelt wird. Denn diese Schule war ja von demselben Wahnsinn befangen, der auch den edlen Manchaner zu allen seinen Narrheiten begeisterte; auch sie wollte das mittelalterliche Rittertum wieder restaurieren; auch sie wollte eine abgestorbene Vergangenheit wieder ins Leben rufen.

Oder hat Miguel de Cervantes Saavedra in seinem närrischen Heldengedichte auch andere Ritter persiflieren wollen, nämlich alle Menschen, die für irgendeine Idee kämpfen und leiden? Hat er wirklich in seinem langen, dürren Ritter die idealische Begeisterung überhaupt und in dessen dicken Schildknappen den realen Verstand parodieren wollen?“

Bezüge zur Gegenwart sind natürlich rein zufällig. Zufälliger geht es gar nicht.

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