Unter der Überschrift „EKD-Statistik: Demografischer Wandel macht Kirche weiter zu schaffen. Finanzielle Auswirkungen vorerst durch konjunkturelle Lage aufgefangen“ veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am 20. Juli 2018 die Zahlen zur Mitgliedschaftsentwicklung 2017 (https://www.ekd.de/ekd-statistik-2018-36432.htm).

Danach verlor die Evangelische Kirche 390.000 Mitglieder (oder 1,8 %). Am 31.12.2017 gehörten noch 21.535.858 Menschen der Evangelischen Kirche an. 2017 gab es rund 180.000 Taufen und 25.000 Aufnahmen. In der Pressemitteilung der EKD heißt es: „Damit sind auch im Jahr 2017 erneut mehr Menschen in die evangelische Kirche eingetreten als im gleichen Zeitraum Mitglieder ihre Zugehörigkeit aufgegeben haben.“

So kann man sich die durchaus dramatische Entwicklung schönreden, indem man Äpfel mit Birnen vergleicht. Doch den 2017 rund 200.000 Austritten aus der Evangelischen Kirche muss man die 25.000 Eintritte gegenüberstellen, und den 350.000 verstorbenen Mitgliedern die 180.00 Taufen. Dann erst wird das Minus-Saldo überdeutlich: auf neun Austritte kommt ein Eintritt. Das Bild wird noch düsterer, wenn man der Anzahl der verstorbenen Kirchenmitglieder die Zahl der Kirchenmitglieder gegenüberstellt, die kirchlich bestattet wurden: 350.000 zu 260.000, d. h. über 25 % der Verstorbenen werden nicht mehr unter Gottes Segen bestattet – ein Fakt, über den kaum gesprochen wird, der aber drastisch offenlegt, wie sehr wir als Kirche den Kontakt zu unseren Mitgliedern verloren haben.

Für die EKD aber scheint dies alles nichts mit ihr selbst zu tun haben: „Demografischer Wandel macht Kirche weiter zu schaffen“, heißt es verräterisch in der Überschrift. Es ist aber nicht der demografische Wandel, der die Kirche auszehrt. Es ist die zunehmende Abkehr vieler junger Menschen von der Kirche und der dramatische Verlust an Menschennähe, die uns zutiefst beunruhigen müssen. Unsere Kirche ist nicht Opfer einer nicht beeinflussbaren Entwicklung, sozusagen einer bevölkerungspolitischen Naturkatastrophe. Unsere Kirche leidet vor allem unter ihren eigenen Defiziten. Da hilft es auch nicht, wenn die EKD wie eine Beruhigungspille die Botschaft ausstreut, dass der Abwärtstrend „durch die konjunkturelle Lage aufgefangen“ wird. Da können die Kirchenfunktionäre weiterschlafen …

Was für eine Verleugnung der Wirklichkeit! Dabei läuft uns die Kundschaft scharenweise davon oder wie Matthias Drobinski in der „Süddeutschen Zeitung“ vor einem Jahr sarkastisch feststellte: „Die Basis der Kirche bröckelt leise“ – und zwar nicht nur durch Austritte. Die Kirche hat in den vergangenen Jahrzehnten ganz viel selbst dazu beigetragen, dass Bindungskräfte des Glaubens und Menschennähe verloren gegangen sind. Das ist vor allem im Jahr des Reformationsjubiläums überdeutlich geworden. Dieses hat nicht dazu geführt, dass negative Trends zum Stillstand gekommen sind und ein kirchlicher Aufbruch in Gang gesetzt werden konnte.

Die Zahlen für das Jahr 2017 belegen: Nachhaltig wirkende Impulse für das kirchliche Leben sind ausgeblieben. Das ist mehr als ernüchternd. Es ist auch bezeichnend, dass die offizielle Kommunikation der statistischen Zahlen durch die EKD in diesem Jahr genauso beschönigend vorgenommen worden ist wie 2016. Man fragt sich: Gibt es niemanden in der EKD oder auf der Ebene der Landeskirchen, der oder die in der Lage ist, aus dem dürren Zahlenwerk inhaltlich-strategische Konsequenzen für die kirchliche Arbeit zu entwickeln und diese in den Diskurs einzugeben?

Ist niemand da, der beides vermag: die Zahlen selbstkritisch zu interpretieren und gleichzeitig Aufgabenstellungen zu formulieren? Glauben wir im Ernst, dass Menschen langfristig der Kirche verbunden bleiben, wenn der personale Bezug nicht mehr gegeben ist? Ist es aber nicht gerade dieser, der in einer digitalisierten Gesellschaft immer wichtiger wird, damit Menschlichkeit und Menschenwürde sich nicht im virtuellen Raum verlieren oder leichtfertig verspielt werden?

Warum werden mit der Veröffentlichung des statistischen Zahlenwerks nicht sofort auch die Impulse gesetzt, auf die unsere Kirche angewiesen ist:

  • Qualifizierung der Ausbildung für kirchliche Berufe, verbunden mit einer Werbungsoffensive – insbesondere auch für den Beruf der Pfarrer/in und des/der Gemeindediakon/in; hier sind die Theologischen Fakultäten gefordert.
  • Abkehr von bloß strukturellen Reformen und von Zentralisierungen, die nur zur Entfremdung, Frust und Verdruss bei allen Beteiligten führen und den Prozess der Auszehrung beschleunigen.
  • Gewährleistung der unmittelbaren Erreichbarkeit von Kirche vor Ort – also: Wie lässt sich unter den jetzigen Bedingungen eine größtmögliche Menschennähe erreichen?
  • Wenn in Kitas, die sich in kirchlich-diakonischer Trägerschaft befinden, laut Statistik über 500.000 Kinder einen Platz finden, dann müssen wir doch dafür sorgen, dass in und über diese Kitas ganz viel GlaubensBildung betrieben wird – gerade weil wir uns in einer multireligiösen und säkularen Gesellschaft bewegen. Oder verstehen wir uns nur noch als ein Anbieter auf dem sozialen Markt unter vielen anderen? Das Gleiche gilt für Schulen und andere Bildungseinrichtungen der Kirche sowie für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen.
  • Die Wahrnehmung des prophetischen Wächteramtes in der säkularen Gesellschaft.

Aus meiner Sicht muss Kirche zweierlei tun:

  • Zum einen hat sie ihr Innenleben neu auszurichten an den Glaubensgrundlagen und dabei im Visier zu behalten: Wir sind gesandt zu den Menschen „zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ (Die Bibel: Lukas 4,18.19).
  • Zum andern ist es unerlässlich, dass Kirche sich in dieser Gesellschaft klar positioniert als die Institution, die für die Grundwerte des Evangeliums eintritt: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben, Option für die Schwachen.

Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben! Und nichts davon darf zur Disposition gestellt oder der politischen Opportunität geopfert werden. Kirche muss sich nicht zur Wahl stellen, sie hat auch keine Regierungsverantwortung zu übernehmen, aber sie hat eine wache gesellschaftspolitische Geistesgegenwart an den Tag zu legen und dabei glaub-würdig zu bleiben. Ihre Aufgabe ist, in Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge den großen Schatz der biblischen Grundwerte immer wieder zu heben – gerade dann, wenn andere diesen als störend vergraben wollen oder vergessen zu haben scheinen, wo er zu finden ist. Ein solcher, zweifacher Aufbruch ist jetzt geboten.

P.S. Zur inhaltlichen Vertiefung siehe auch 
Friedrich Schorlemmer und Christian Wolff, Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung. Ein Memorandum zum Reformationsfest 2017
und 
Reformation in der Krise – ein kritischer Blick in die Zukunft der Kirche
und
Umbruch und Aufbruch – Kirche in der säkularen Gesellschaft

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Und was, wenn all dies nicht geschieht? Wenn Gerechtigkeit, Güte und Fürsorge in der Gesellschaft bestehen, ohne dass ein Pfarrer darüber wacht?
Wenn Kinder in Kindergärten das Miteinander lernen, auch ohne Kreuz vor dem Eingang? (Auch in solchen Einrichtungen, die zwar das Kreuz tragen, aber zu nahezu 100% öffentlich finanziert werden.)
Was, wenn die säkulare Gesellschaft nach und nach ohne die Institution Kirche auskommt und sich dafür andere Institutionen schafft?

Wäre das so schlimm? Wäre das wirklich der Untergang des Abendlandes – oder nicht einfach sein Aufbruch in die Moderne? Müssen wir tatsächlich Kinder indoktrinieren und Kranke emotional erpressen, damit der Glaube an ein imaginäres Wesen erhalten wird?

Die Kirche bleibt im Dorf. Wer sie braucht, soll sie gestalten und nutzen. Die Welt dreht sich derweil weiter, ob mit oder ohne Kirche.

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