Harald Welzer hat kürzlich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ von der „Renaissance der Menschenfeindlichkeit“ gesprochen (https://www.zeit.de/2018/23/rechtspopulismus-rechtsruck-afd-migration-konsensverschiebung). Dafür macht er vor allem „Brückenfiguren“ wie Horst Seehofer verantwortlich, die „ausgrenzende und menschenfeindliche Haltungen“ von Pegida und AfD salon- und gesellschaftsfähig machen. Welzer hat damit auf ein Problem hingewiesen, das in diesen Tagen deutlicher denn je zutage tritt. Es hat sich aber schon lange aufgebaut: die Umkehrung der moralischen Grundwerte in ihr Gegenteil.
Begonnen hat dies mit dem Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ im Jahr 2010. Da wurde zum ersten Mal und sogleich millionenfach aus der sog. Mitte der Gesellschaft die Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen als nicht integrierbar oder zum Volkskörper gehörig betrieben, akribisch und pseudo-wissenschaftlich belegt mit relativ zusammenhanglos zusammengestellten Fakten, um ein Angstszenario zu befördern: die Umvolkung Deutschlands durch eine fremde Religion, den Islam.
Parallel dazu wurde es geradezu schick von den „Gutmenschen“ zu sprechen und die sog. „political correctness“ an den Pranger zu stellen. Damit sollte dem moralischen Anspruch all jener widersprochen werden, die sich in ihrem Handeln an humanen und christlichen Grundwerten orientieren und Standards des Anstands in der öffentlichen Auseinandersetzung zu beachten suchen (und dies auch von anderen erwarten).
Immer deutlicher wird, was damit bezweckt ist: Zum einen soll ausgetestet werden, wie weit man gehen kann, um eine bestimmte Menschengruppe wie Asylbewerber oder Geflüchtete (aber auch Moslems und Türken) in der Bevölkerung als nicht dazu gehörig zu betrachten? Wird es funktionieren, moralische Grundwerte der politischen Opportunität unterzuordnen und diejenigen, die dennoch daran festzuhalten versuchen, als gefährlichen Störfaktor („Anti-Abschiebe-Industrie“) abzutun?
In den vergangenen Jahren haben wir erlebt: Ja, das funktioniert – und zwar nicht nur in den weitgehend anonymen sog. sozialen Netzwerken. Es funktioniert auch auf der politischen Ebene. Nachdem es zum Schulterschluss zwischen den Dauer-Hassrednern von Pegida (Tatjana Festerling „Ich scheiße auf Anstand“) und der AfD gekommen ist, geht nun die CSU daran, sich der AfD anzupassen und ihre menschenverachtende Sprache zu übernehmen. Über Geflüchtete wird nur noch gesprochen als „muslimische Invasoren“ oder „illegale Masseneinwanderung“, die abgewiesen werden müssen. Geflüchtete, so wird suggeriert, haben in Deutschland nichts zu suchen, weil sie keinen Grund haben zu flüchten.
Und was ist Reisen ohne einen triftigen Grund? Natürlich: „Asyl-Tourismus“ (Söder). Flankiert wird diese Propaganda seit Wochen von der BILD-Zeitung, die kaum einen Tag vergehen lässt, ohne nicht Ängste anzuheizen: „Asyl-Wahnsinn in Deutschland: ‚Ich habe 40 Menschen umgebracht und will Asyl‘“. Wenig überraschend, dass solche Überschriften dazu führen, dass abseits aller Fakten in der Abschiebung bzw. Zurückweisung an der Grenze das Allheilmittel gesehen wird. Alexander Gauland hat schon im März 2016 ohne Umschweife ausgerufen: „Wir wollen keine Flüchtlinge“. Keine Flüchtlinge – genau dieses wird derzeit ungesagt von der CSU propagiert. Dass da „Gutmenschentum“, sprich die Orientierung menschlichen Handelns an Artikel 1 des Grundgesetzes und an christlichen Maximen, nur stören kann und als „rechtswidrig“ delegitimiert werden muss, gehört mit zum Getöse.
Genauso wie Söders Kreuz-Aktion kurz bevor er die Kampagne gegen die Flüchtlinge und gegen Merkel losgetreten hat. Denn er verfolgt ein Ziel: unbedingt das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger brechen, dann die Spaltung der Bevölkerung herbeireden und denen, die sich von Geflüchteten abwenden und Grundwerte zur Disposition stellen, noch das gute Gefühl vermitteln, alles stehe im Einklang mit den Werten des christlichen Abendlandes.
Dass diese Kampagne nur funktionieren kann, wenn die Fakten gezielt verdreht werden, ist auch klar. Denn so wenig wie im August 2015 die Grenzen „geöffnet“ wurden, so wenig können sie jetzt geschlossen werden. Die Geflüchteten, die angeblich aufgrund von Angela Merkels Selfie in Syrien aufgebrochen sein sollen, waren 2015 schon längst auf dem Weg in Richtung Europa. Schon im Juli 2015 hat das Bundesinnenministerium ziemlich exakt die Zahl der Asylbewerber vorausgesagt: 800.000 (tatsächlich waren es 890.000 – und nicht wie ständig kolportiert wird 1,2 oder 1,5 Millionen).
Die Gründe, warum sie 2015 die Flucht auf sich genommen haben, sind auch einsichtig: der Syrien-Krieg, das Wüten des IS, die Kürzung der Mittel in den Flüchtlingslagern durch die UNO. All das wissen die CSU-Granden ganz genau. Sie wissen auch, dass am zynischen Gerede von der „Herrschaft des Unrechts“ genauso wenig dran ist wie an der Attitüde Seehofers, er wolle nun an den Grenzen dem Recht wieder Geltung verschaffen. Dabei widerspricht sein Vorhaben dem geltenden europäischen Recht. Und so betreibt die Führungsriege der CSU mit voller Wucht das schmutzige Spiel der Umwertung der Werte und vernachlässigen sträflich das, was ihre Aufgabe ist: eine den Menschen zugewandte Integrationspolitik.
Damit zerstören sie nicht nur das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält und Integration ermöglicht: die Würde eines jeden Menschen. Sie verramschen die Grundwerte eines menschlichen Zusammenlebens, offener Gesellschaft, der kulturellen und religiösen Vielfalt auf demselben Markt, auf dem sich derzeit Pegida und AfD mit ihren Marktschreiern Höcke und Gauland tummeln und austoben. Der Publizist Carl Amery wirft am Schluss seines Buches „Hitler als Vorläufer? – Auschwitz, der Beginn des 21. Jahrhunderts?“ die Frage auf: „Müssen wir Unmenschen werden, um die Menschheit zu retten?“
Diese Frage steht hinter Aussagen wie: „Wir können doch nicht die ganze Welt retten“ oder „Wir doch nicht das Sozialamt Europas“, um damit die Aushebelung von Grundwerten zu begründen. Amery kommt zu dem Schluss, dass Hitler diese Frage eindeutig mit JA beantwortet hat (Stalin, Pol Pot, Mao Tsedong auch). Wir aber können, müssen diese Frage klar verneinen – nicht nur weil wir wissen, welch verheerende Folgen dieses JA hatte. Wir fühlen uns hoffentlich auch der Botschaft verpflichtet, die Amery so charakterisiert: „die Botschaft von der Friedfertigkeit, von der Erhaltung des schwachen und gekränkten Lebens, von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses.“ Lassen wir nicht zu, dass diese Botschaft entsorgt wird!
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