Bevor sich das Jubiläum des Lutherschen Thesenanschlags von 2017 näherte, schufen die Uni Leipzig, die Stadt Leipzig und die Lutherschen Kirchen der Stadt ein Format, das seinesgleichen sucht in Deutschland: die Leipziger Disputation. Die erinnert nämlich an das eigentliche Leipziger Luther-Ereignis: die Disputation zwischen Luther und Eck 1519 in der Hofstube des kurfürstlichen Schlosses. Bis 2018 fand die Disputation in der Thomaskirche statt. Jetzt findet sie zum ersten Mal im Paulinum statt.
Und damit erstmals an dem Ort, wo sich die Veranstalter dieses Diskussionsformat schon immer gewünscht haben. Nur wurde halt die Aula/Paulinerkirche ewig nicht fertig.
Aber da erging es der Disputation ja genauso wie der von 1519 – die sollte ja eigentlich auch in der Uni stattfinden. Aber damals verwahrten sich die Leipziger Universitätsprofessoren. Sie wollten nicht mal den Disput mit Luther wagen. Also lud Herzog Georg der Bärtige zum Disput in sein Leipziger Schloss ein und war hinterher richtig sauer auf Luther. Das, was der Professor aus Wittenberg gesagt hatte, ging ihm zu weit. Fortan stand Georg auf der Seite von Luthers Widersachern.
Aber die Disputation ging damals ja in Wirklichkeit aus wie das Hornberger Schießen: Beide Seiten fühlten sich als Sieger. Die Lutherschen glaubten, mit Argumenten gesiegt zu haben. Und die Altgläubigen fanden, sie hätten den Querkopf erfolgreich in die Ketzerecke manövriert. Die Folge ist bekannt: Ein bis heute konfessionell geteiltes Land.
Aber natürlich steht die Leipziger Disputation auch für die hohe Kunst eines wissenschaftlichen Streitgesprächs, in dem beide Seiten über ein Konfliktthema sprechen, ohne ausfällig zu werden, also möglichst sachlich, mit guten Argumenten – und die dabei auch auf die Argumente der Gegenseite eingehen.
Schief wurde die Sache 1519 ja nur, weil Eck es beim wissenschaftlichen Disput nicht beließ, sondern hinterher die päpstliche und die weltliche Macht anrief, diesen Luther zu zerquetschen. Wer die Macht anruft, weil ihm die Argumente der Gegenseite nicht passen, der hat die Ebene des gleichberechtigten Disputs verlassen.
Und so waren denn die Leipziger Disputationen mit namhaften Rednern auch immer als echtes, respektvolles Streitgespräch gedacht. Mal klappte es, mal stellte sich heraus, dass Leute, die – nach medialer Darstellung – öffentlich permanent aufeinander einprügelten, im Gespräch in Wirklichkeit ein Herz und eine Seele waren. Und dabei habe man jedes Mal zu kontroversen Themen auch möglichst kontroverse Verfechter einer Position gesucht, sagt Thomaspfarrerin Britta Taddiken.
Und das Thema, das die Gruppe der Organisatoren für 2018 gefunden hat, fordert natürlich geradezu zum Disput heraus. Es ist ein Thema mitten aus den Konflikten der Zeit gegriffen: „Kann nur ein Gott uns retten?“
Denn überall liest und hört man ja fatalistische Endzeit-Rufe, scheint sich eine Stimmung des Alles-wird-immer-schlimmer zu verbreiten. Und man denkt an die Zeit, als Jesus Christus wohl in Galiläa herumwanderte: Auch das war eine Zeit voller Untergangs-Prophezeiungen, voller Erwartungen des „Jüngsten Tages“ oder gleich von Armageddon. Und wer mit dem Begriff Armageddon etwas anfangen kann weiß, dass die Hälfte der Selbstwahrnehmung der USA reineweg aus Armageddons besteht. In gefühlt jedem zweiten Hollywood-Film geht die Welt unter und muss sich von irgendeinem Supermann im Army-Outfit retten lassen.
Und zu Luthers Zeiten gingen ähnliche Endzeit-Stimmungen um. Wozu auch die Papstkirche mit ihrer institutionalisierten Drohung mit Hölle, Teufel und Fegefeuer beitrug. Eine Panik, die ja bekanntlich auch den jungen Luther in Verzweiflung stürzte, bis er eines Tages auf dem Donnerbalken die erlösende Erkenntnis hatte: Dieser ganze Firlefanz war eine Kopfgeburt. Damit werden die Menschen zu Narren gemacht. Allein der Glaube hilft aus der Bedrängnis.
Und da sind wir nun wieder, auch wenn die heutigen Endzeit-Mythen mal nicht von der Papstkirche geschürt werden, sondern von sehr wohl interessierten Werbeabteilungen, Parteien, Karrieristen und Medien, die in der Erschaffung einer im Chaos versinkenden Welt die tollste Masche für sich entdeckt haben, an die Köpfe und Geldbeutel der Menschen zu kommen.
Kurz mal bremsen. Denn natürlich liegt dem Kreis der Leipziger Disputation dabei auch immer am Herzen, die Religion selbst zu thematisieren. Was auch Sinn macht, wenn selbst schon die Blondinen in der siebenten Klasse im heuchlerischen Tonfall bekloppter amerikanischer Familien-Serien „O, my God!“ jaulen, wenn sie ihrer Verwunderung für irgendetwas gänzlich Unmögliches Ausdruck geben. Man hört regelrecht, wie sie sich schon am Nachmittag vom „God bless you“-Schrott aus amerikanischen Studios penetrieren lassen.
Ohne auch nur ein einziges Mal darüber nachzudenken, warum in diesen Familienserien aus der heilen Welt amerikanischer Kleinfamilien beständig Gott angerufen wird, ohne dass die Darsteller in irgendeiner Weise sichtlich kirchenverbunden oder gar gläubig sind.
Eine nicht ganz unwichtige Frage in unserer Zeit.
Und so lud man zwei durchaus streitbare Gesprächspartner zur Disputation ein – den Autor Dr. Klaus-Rüdiger Mai (der sich besonders mit Luther beschäftigt hat) und den Philosophen und Religionskritiker Peter Sloterdijk. Aber der Philosoph bekam dann den Leipziger Termin nicht mehr unter in seinem Kalender. „Aber wir haben ja Leute, die das genauso gut können“, sagt Uni-Rektorin Prof. Beate Schücking. Und einer hat sogar noch eine ganze besondere Professur: Religionswissenschaftler Prof. Dr. Horst Junginger, der derzeit die Stiftungsprofessur für Religionskritik an der Uni Leipzig innehat.
Und wie ein echter Kritiker an so eine Frage wie „Kann nur ein Gott uns retten?“ herangeht, wird schon in seiner ersten These deutlich. So ticken Wissenschaftler wirklich: „Welcher Gott, warum nur einer, wieso männlich? Retten wovor? Warum gerade uns?“
Da jubelt man schon beim Lesen. Denn so funktioniert kritisches Denken: Oft stecken nämlich die Denk-Fehler schon in der Frage. Wenn man nicht weiß, worüber man wirklich diskutiert, braucht man gar nicht erst anzufangen.
Klaus-Rüdiger Mai hat dafür den Ansatz aufgenommen, den die Organisatorenrunde aufgeworfen hatte. Denn die wollte ursprünglich auf das Super-Geburtstags-Kind des Jahres Bezug nehmen: Karl Marx. Und der hat ja was mit Kirche und Opium gesagt, oder nicht?
„Das Christentum ist kein Opium des Volkes, wie Karl Marx, dessen Geburt sich im Mai zum 200. Mal gejährt hat, schrieb. Es ist Glaube, der tröstet, Liebe, die zum helfenden Handeln drängt, und Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.“ Das ist Klaus-Rüdiger Mais erste These. Man ahnt schon: Das kann funken.
Und soll es auch. Und natürlich kommt man bei der Vorstellung der Thesen an diesem Freitagmittag, an dem auch der Innenhof des Uni-Campus in der Sonne brutzelt, auch ins Gespräch über die Rolle des Streitgesprächs in unserer Zeit an sich. Denn da sind sich eigentlich alle einig: Die hohe Kunst des Streitens hat die Mehrheit irgendwie verlernt. Auch wenn es die Universität in mehreren auch öffentlichen Foren – etwa der Donnerstagsdebatte – pflegt.
Aber auch Horst Junginger hat die Erfahrung gemacht, dass die Kunst eines respektvollen Streitgesprächs vielen gar nicht (mehr) bekannt ist. Es wird nicht mehr vermittelt in den Schulen. Und was auf der medialen Bühne geboten wird, hat damit nichts mehr zu tun. Da wird gehöhnt, gepöbelt, gestritten, gehen eigentlich ehrenwerte Leute miteinander um, als wollten sie sich gleich an die Gurgel gehen, statt einfach mal zuzuhören und auf die Argumente des Gegenübers ruhig und sachlich einzugehen.
Junge Leute sind sogar regelrecht eingeschüchtert, haben nie gelernt, wie man seinen Standpunkt ruhig, sachlich und souverän vorträgt und dabei auch akzeptiert, dass andere Gesprächspartner das anders sehen. Oder manche Sichtweisen nicht teilen.
So gesehen kann die Leipziger Disputation auch ein Vorbild sein, ein Ereignis, das öffentlich zeigt, wie zwei völlig verschiedene Positionen miteinander ins Gespräch kommen.
„Frei ist nur der nicht verabsolutierte Mensch“, sagt Klaus-Rüdiger Mai.
„Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, sagt Horst Jungiger und zitiert damit Protagoras.
Moderieren wird den Disput Reinhard Bingener von der Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.)
Die Leipziger Disputation selbst wird am Dienstag, 19. Juni, um 20:00 Uhr im Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli stattfinden.
Die Veranstalter der Leipziger Disputation sind die Universität Leipzig, die Stadt Leipzig, die Ev.-Luth. Kirchgemeinde St. Thomas, die Evangelische Kirche in Deutschland und die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.
Die Thesen der beiden Disputanten.
Ist Kirche nur noch Moralagentur oder Bekenntnisgemeinschaft oder geht das Thema auch den Rest der Gesellschaft an?
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