Lieber Michael Kretschmer, der Begriff „Ankerzentrum“ ist augenblicklich in aller Munde. Sie haben einen entscheidenden Anteil daran. Sie möchten diese Lager – entschuldigen Sie, wenn ich an dieser Stelle mal den „Nude-Look“ der Sprache wähle – in Sachsen errichten lassen, und das möglichst rasch. Um mit zu den Ersten zu gehören. Um ein Zeichen der Proaktivität zu setzen oder „um ‚der AfD mit Ironie‘ zu begegnen“ – so richtig versteht man es nämlich nicht.
Natürlich sehe ich aus der effizienz-verliebten Argumentationslage einige Ihrer Beweggründe schon. Ich sehe allerdings auch andere Bilder vor meinem inneren Auge, wenn ich mich mit diesem Thema beschäftige. Ich muss dann nämlich unweigerlich an den Film „Heute bin ich Samba“ denken, der vor drei Jahren auch in den deutschen Kinos lief. Dort gibt es Szenen, die es einem sehr einfach machen, einmal von der anderen Seite, nämlich der des Kasernierten, nachzuempfinden, wie es ist, wenn mit einem das gesamte Repertoire an Bangen und Hoffen sowie die gebündelte Trostlosigkeit der Welt eingesperrt wird. In der Fremde, die einen nicht will. Mit dem Wissen um die Heimat, die einen vielleicht noch nie recht wollte. Schwieriges Thema, ich weiß.
Ich nehme allerdings wahr, dass Sie sich mit diesen Basics schon lange nicht mehr beschäftigen.
Ich weiß, Sie sind viel unterwegs, packen viel an, reden mit den Menschen. Und haben als MP sicher chronisch wenig Zeit. Trotz allem wage ich es, Ihnen diesen Film ans Herz zu legen – ein wohlmeinender DVD-Tipp zur aktuell-politischen Lage ist das allemal und Sie werden es auch sonst nicht bereuen:
Heute bin ich Samba
Nein, dieser Film ist kein Tanzfilm. Es wird auch mal getanzt zwar, aber man tanzt nebensächlich. Reingeworfen werden wir in ein um einiges schwelenderes Thema. Ein spröderes. Und trotzdem ein klassisches. Es geht um ständig von der Abschiebung betroffene Ausländer, es geht um die Liebe, um den Kampf ums Dasein, um verschrobene Auswüchse unserer modernen Gesellschaft. Existenzangst im großen Stile, die jemand aus dem Senegal nach Frankreich gelangen lässt, auf der einen Seite, Burnout und Pillenabhängigkeit als die Pervertierung aller Zivilisationskrankheiten auf der anderen Seite.
Wie immer auf besondere Weise die fragil-herbe Charlotte Gainsburg in der Rolle der Geschäftsfrau Alice, die eine Auszeit nehmen muss und nun schlaflos therapeutisch Pferde streichelt. Als Therapie für sich. Nicht für die Pferde – wohlgemerkt.
In einem Hilfsprojekt für Abgeschobene lernt sie einen jungen Senegalesen kennen, der seit zehn Jahren illegal in Frankreich lebt und nun im Abschiebeheim sitzt, weil er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt hat.
Die wirkliche Wucht aber ist und bleibt Omar Sy, der fidele Protagonist und Rollstuhlfahrer-Aufknacker aus „Ziemlich beste Freunde“, diesmal sehr viel verletzlicher, anständiger und leiser als im Vorgänger.
Unglaublich dieser Gegensatz der in so zarten Banden der Liebe Landenden: diese zarte französische Pflanze, die in der Umarmung dieses riesigen, muskulösen Schwarzen verschwindet. Fliegend am ganzen mageren Körper.
Es ist manches ein wenig verzeihlich konstruiert in diesem Film, aber die Gefühle sind glaubhaft.
Und das ist das einzig Wichtige im Kino. Oder, Herr Ministerpräsident?
Man darf sie auch ruhig dann und wann mit herausnehmen – ins richtige Leben. Entgegen der landläufigen Meinung bedeutet dies nämlich nicht automatisch, der Vernunft eine Absage zu erteilen. Manchmal machen Gefühle der Vernunft sogar einen ernst zu nehmenden Antrag. 🙂
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie einen sanften und schönen Frühsommer und grüße Sie ganz herzlich aus dem Ihnen gut bekannten Leipzig.
Ulrike Gastmann
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