Spätestens ab dem 1. Mai jedes Jahres wird mir immer irgendwie ein bisschen historisch ums Gemüt. Klar. Man erinnert sich an diesem Tage – ob man will oder nicht – an Rituale, Gepflogenheiten der Kindheit, lästige Aufmarschier-Pflichten, an Transparente. Mit schwerwiegenden Losungen: „SDI – eine Riesenschweinerei!“ „Schriftsteller für Frieden und Sozialismus!“, „ Null-Fehler-Arbeit – Gewinn für uns alle!“ Oder einfach: „Mehr Licht!“.
Heute ist das alles vorbei. Vorbeimarschieren an älteren Männern seitens der Jugend erfolgt in Leipzig heute ausschließlich an Wochenend-Abenden im Barfußgässchen. Oft ohne Transparente zwar, jedoch nicht ohne eine gewisse Transparenz. Durchsichtig wird dadurch natürlich auch mein Ansinnen, fadenscheinig zum 8. Mai überleiten zu wollen.
Ja, genau der 8. Mai. Tag der Befreiung. Der Tag, von dem man gemeinhin anzunehmen pflegt, dieser Riesenscheiß an Zweitem Weltkrieg sei irgendwie – na ja – ad acta gelegt worden. Ist er ja auch. Was danach kam, haben unsere Eltern und Großeltern und einige andere live miterlebt. Das Ergebnis all der Jahre danach will ich aus heutiger Sicht nicht beurteilen, weil es so schwer ist, dabei gerecht zu bleiben.
Vieles ist ja zweifellos gut an diesem Deutschland. Sehr gut sogar. Für nicht wenige zumindest. Trotz allem ist wie auf schleichenden Wegen vieles auf einem so unsäglich absteigenden Ast des Baumes Niveau-Würde-Mitmenschlichkeit, dass man sich hinter dessen Stamm gern übergeben möchte. Bei aller sonnigen Gemütsverfassung kann dann doch nicht gesagt werden, wir hätten so furchtbar viel gelernt seit dem 8. Mai 1945.
Vieles hat seine Konstanten in Variation: Das Volk will Brot und Computerspiele. Und noch immer machen vor allem jene Leute den frequentiertesten Gebrauch vom Pulver, die es schwerlich erfunden hätten, als es erfunden wurde.
Der MDR, von dem man natürlich halten kann, was man will, brachte im vergangenen Jahr an diesem Datum immerhin nicht Helene Fischer bei der Ice-Bucket-Challenge, sondern die Verfilmung von Werner Holt. Das fand ich so unangemessen nun nicht.
Für mich ist das Buch, dazumal Pflichtlektüre in der Zone, eingemeißelte Erinnerung und zusätzliche Anstiftung zu lebenslangem persönlichem Pazifistentum. Sexualität war selbstverständlich auch dabei. Und das war gut so.
Als ich diese – für meine Begriffe schwer frivolen und hochinteressanten – Werner-Holt-Zeilen zum ersten Mal las, wusste ich nichts, absolut nichts, von der Existenz einer Welt voller Penispumpen, Bondage-Enthusiasten, Analbleaching und Natursektspielchen …
Jetzt, da ich zwangsläufig davon Kenntnis erhalten habe, stelle ich fest: Ich bin keinen Schritt weiter. Und all das Zeugs lenkt auch nur ab. Vom Menschsein. Es ist Unterhaltungs- und Verfügbarkeitsquatsch. Orgasmus ist immer hübsch. Im Frieden vermutlich für die meisten jedoch irgendwie noch galaktischer.
Aber lest selbst bei Dieter Noll (ja, ja, ich weiß, „Kippenberg“ war hochwertiger, aber langweiliger) im „Werner Holt“ nach:
„Um ihre Mundwinkel bebte es wieder wie Spott: ‚Was brauchst du nach Stalingrad noch, um aufzuwachen?‘ (…) Es war totenstill im Haus. Er stand bewegungslos in seinem Zimmer. Er kämpfte um einen Entschluß. Er trat hinaus auf den Flur. Noch einmal blieb er sekundenlang stehen, vor der gegenüberliegenden Tür. Dann drückte er die Klinke nieder. Die Tür gab nach. Durch das geöffnete Fenster fiel schwaches Licht. Sie schlang beide Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich in die Dunkelheit.
Aber er sah ihr Gesicht unter sich, die weit geöffneten Augen. Das Zucken ihrer Mundwinkel verriet, dass er ihr Schmerz bereite. Lust und Schmerz. Er blieb bei ihr bis es hell wurde. Der heraufdämmernde Tag war nichts anderes als ein Lichtfleck zwischen zwei Nächten. Er nahm zum ersten Mal mit vollem Bewusstsein den Anblick lebendiger Schönheit in sich auf, und sie verbarg sich nicht vor ihm.
Doch ein anderes Bild, so unvermittelt, dass er sekundenlang erstarrt neben ihr lag, schlug in seine Gedanken hinein: Phosphor. Furchtbare Wunden. Körper zu schwarzen Strünken verbrannt.“
Ich stelle abschließend zum 8. Mai 2018 fest: Wir Frauen möchten mit Männern im Bett liegen, denen solche Bilder nicht in die Gedanken einschlagen, weil sie sie live erleben mussten.
Viel mehr muss man eigentlich nicht wissen.
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