„Deutschland ist durch das Christentum geprägt“ oder sei „christlich-abendländisch geprägt mit jüdisch-humanistischen Wurzeln“ – so und ähnlich tönt es aus Kreisen der CSU bis hin zur AfD. Doch was unter „christlich“ verstanden werden soll, bleibt meist im Nebulösen. Das ist kein Zufall.
Denn wer im politischen Kontext vom „christlichen Abendland“ spricht, setzt das als Kampfbegriff ein. Dieser dient vor allem der Ausgrenzung – Ausgrenzung des Fremden, insbesondere des Islam, den man genauso pauschal wie unzutreffend als Fremdkörper im „christlichen Abendland“, als nicht dazugehörend definiert. Kein Wunder also, dass mit dem Schlagwort „christliches Abendland“ fast ausschließlich Befindlichkeiten aufgerufen werden: Kirchturm, Brauchtum, Tradition.
Es wird aber nicht erinnert, geschweige denn angeknüpft an die Inhalte der biblischen Botschaft und die Grundwerte des christlichen Glaubens. Auch das ist kein Zufall. Denn wer auf diese zurückgreift, kann Positionen, die auf Ausgrenzung des anderen und Beharren auf nationale Identität abzielen, nicht aufrechterhalten.
Gerade das Leiden und Sterben Jesu, das wir am Karfreitag bedenken, macht deutlich, wie schnell wir Menschen bereit sind, wenn es opportun erscheint, Glaubensinhalte beiseitezuschieben und zu verraten. Die Leidensgeschichte Jesu schildert nicht die Auseinandersetzung zwischen einer richtigen und einer falschen Religion. Sie ist ein paradigmatisches Drama innerhalb einer Religionsgemeinschaft, innerhalb einer Kirche, innerhalb einer Gesellschaft. Es geht vor allem um Macht – um die Macht des Menschen über den Menschen, um Allmacht, die man Gott aus den Händen reißen will.
Weil Jesus diese Machtauseinandersetzung als unmenschlich entlarvt und sich ihr gleichzeitig entzieht, wird er als Fremdkörper gebrandmarkt, seine Lehre als Gefahr, werden seine Anhänger als zu vernichtende Minderheit angesehen. Das Volk wird von interessierter Seite eingesetzt, um den Prozess der Ausgrenzung als Ergebnis des Volkswillen zu zelebrieren. Dann vollzieht sich das, was sich in der Geschichte immer wiederholt: Die Unterdrückten, Verachteten, Bedeutungslosen werden gegeneinander ausgespielt. Soll Jesus oder Barabbas gekreuzigt werden?, fragt Pilatus. Das Volk geifert: Barabbas freilassen! Sollen Deutsche oder Ausländer von der „Tafel“ versorgt werden? Das Volk und mit ihm die heutigen Hohenpriester sind sich einig: Nur deutsche Arme gilt es zu unterstützen.
Dann fordert das Volk von Pilatus: Kreuzige ihn! So wie seit Monaten bei jeder Gelegenheit skandiert wird: Abschieben, Volksverräter, Wir sind das Volk. So versuchen sich Menschen von allem und aller zu entledigen, was und die sie stören. Doch wer sich auf das Christentum beruft, muss wissen: Die Grundbotschaft des Glaubens richtet sich immer und zuerst in ihrem Zuspruch und Anspruch an mich selbst, an die eigene Institution, an die eigene Gesellschaft – mit dem Ziel: den nahen und fernen Nächsten in den Blick zu bekommen. Ich selbst und meine Art zu leben werden infrage gestellt. Darum ist es völlig abwegig, „die Juden“ für den Tod Jesu verantwortlich zu machen (so wie es über Jahrhunderte von den Kirchen mit grauenhaften Folgen praktiziert wurde), genauso abwegig wie „die Flüchtlinge“, „die Moslems“ zum Sündenbock für alle Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zu vermonstern.
Die Ursache für das Leiden Jesu am Kreuz ist das Versagen des Menschen, meine Unzulänglichkeit, mein Egoismus. Übrigens: Diese Perspektive wird von Johann Sebastian Bach in der Matthäus- wie Johannespassion in besonderer Weise hervorgehoben. Darum haben Umkehr, Buße, Beichte im christlichen Glauben eine so große Bedeutung. Sie sollen dazu beitragen, dass wir uns nicht über andere erheben, unsere Grenzen anerkennen und den befreienden Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit antreten.
Nun hat der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder die Absicht geäußert, in allen staatlichen Gebäuden ein Kreuz aufzuhängen: „Ich möchte, dass wir uns mehr bekennen zu den Symbolen, die uns ausmachen.“
Doch wofür steht das Kreuz? Sicher nicht für das christliche Abendland. Nein: Es ist das Zeichen für den großen Einspruch Gottes gegen die anmaßende Lebensweise des Menschen. Diese hat Jesus ans Kreuz gebracht. Das Kreuz ist kein Machtsymbol, das eine bestimmte Nation oder ein auserwählter Kulturkreis für sich in Anspruch nehmen kann. Das Kreuz Jesu ist Zeichen dafür, dass Gott bis zur letzten Konsequenz einen egomanisch-nationalistischen verengten, auf Gewalt setzenden Herrschaftsanspruch von Menschen und Mächten ad absurdum führt. Gleichzeitig beinhaltet das Kreuz das Angebot Gottes, Hass und Gewalt durch Versöhnung zu überwinden.
Wer aber das Kreuz folklorisiert oder zu einem ideologischen Kampfinstrument macht, der entleert den herausfordernden Inhalt des christlichen Glaubens. Denn die eigentliche Provokation ist: Jesus ist nicht gegen die Juden, gegen den Islam, gegen die, die mir fremd sind, gestorben, sondern für alle Menschen (Gustav Heinemann). Darum kann ein römischer Hauptmann, weder Jude noch Christ, unter dem nach seinem Befehl Gekreuzigten stehend, ausrufen: Wahrlich, dieser Jesus ist Gottes Sohn. In diesem Jesus von Nazareth wird das Leben offenbar.
Diese Provokation wird mit dem Ostergeschehen noch einmal verstärkt. Denn mit der Überwindung des Todes wird all das zu einer Möglichkeit, was Menschen nicht wahrhaben, auch bewusst verhindern wollen: Achtung des gescheiterten, beschädigten Lebens, gegenseitiges Verstehen, Mauern überwinden, friedliches Zusammenleben in der einen Welt Gottes. Die zentrale Osterbotschaft lautet: Die Bedingungen, die Jesus ans Kreuz gebracht haben, also die Bedingungen der unerbittlichen Machtauseinandersetzung, sind aufgehoben. Jetzt kann gelingen, was von den Hohenpriestern und Pilatus zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften bestritten wird. Johann Sebastian Bach hat diesen Gedanken in den Mittelpunkt der Matthäus-Passion gestellt.
Auf die Frage des Pilatus „Was hat er (Jesus) denn Übels getan?“ antwortet die Sopran-Stimme mit dem Rezitativ: „Er hat uns allen wohlgetan, den Blinden gab er das Gesicht, die Lahmen macht’ er gehend, er sagt’ uns seines Vaters Wort, er trieb die Teufel fort, Betrübte hat er aufgericht’, er nahm die Sünder auf und an, sonst hat mein Jesus nichts getan.“
Dieses Tun der Liebe war und ist für Menschen immer noch unerträglich. Es wird aber mit der Auferstehung Jesu von den Toten gerechtfertigt und darum für Christen in aller Welt ein bleibender Maßstab. Es wäre viel gewonnen, wenn wir aufhören, das „christliche Abendland“ als propagandistische Keule einzusetzen. Vielmehr sollten wir durch Wort und Tat von den Zumutungen und Verheißungen unseres Glaubens Zeugnis ablegen. Karfreitag und Ostern ist dafür ein guter Anlass.
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