So mancher Kommentator hat sich ja in letzter Zeit lustig gemacht über das neueste Studienergebnis, das das Team um den Düsseldorfer Soziologen Prof. Dr. Ulrich Rosar vermeldete. Seit 2002 misst es an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf die Attraktivitätswerte deutscher Bundestagskandidaten und vergleicht diese mit den Wahlerfolgen. Gewinnen tatsächlich nur die Schönen?

Nicht unbedingt, aber was die Mannschaft um Rosar tatsächlich ermittelt, ist ein Faktor, den die Werbeindustrie schon lange kennt: Man verkauft das sinnloseste Produkt, wenn man es mit einem schönen Mannequin labelt. Das lenkt ab – selbst da, wo überhaupt kein Inhalt drin ist. Die Menschen kaufen den schönen Schein und machen sich über die Folgen nicht viele Gedanken.

Politische Wahlen finden ja nicht abseits der üblichen Lebens- und Konsumwelten statt. Im Gegenteil. Wahlen leben davon, dass sie ein politisches Produkt an Mann und Frau zu bringen versuchen. Nur sind politische Produkte, wenn sie auf einen saftigen Slogan zu bringen sind, meistens hochgiftig und schädlich.

Sie sind dann zwar eingängig und erreichen auch Wähler, denen Politik und Demokratie meist zu komplex und anstrengend sind.

Demokratie ist anstrengend.

Doch selbst das meinungsbildende Medium – das Fernsehen – reduziert Politik auf kurze, eingängige Sprüche. Und auf Gesichter. Deswegen ist Rosars Forschung eigentlich nur eine Bestätigung für einen Trend: die Medialisierung von Politik über Gesichter und Personen.

Was Rosar übrigens gar nicht untersucht, ist der Weg der „schönen“ Kandidaten auf die Spitzenplätze. Denn sie landen ja nicht zufällig auf den Plakaten. Sie haben sich vorher schon in ihren Parteien durchgesetzt. Gilt auch dort die Formel „Der Attraktivste wird Spitzenkandidat“?

Das hat noch niemand untersucht.

Aber Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich ihren Wahlparteitagen stellen. Und sie müssen dort überzeugen – mit Argumenten (ganz schwierige Kiste), mit guter Rhetorik (die die meisten gar nicht gelernt haben) und einem souveränen Auftritt am Pult – letzteres klappt meistens noch, weil hier zum schönen Outfit meist noch etwas hinzukommt: selbstbewusstes Auftreten. Oder – die Trump-Variante – rücksichtsloses Auftreten. Denn es geht parteiintern immer auch um ein Bild von Führungsstärke (meistens ein sehr altes. Stichwort: Mannsbilder).

Deswegen ist Rosars Forschung beschränkt. Er kann mit seinen Mitarbeitern nur messen, was sich bis zum Plakat durchgesetzt hat.

Aber der Effekt existiert wirklich. Den messen Psychologen übrigens auch, wenn es um alle möglichen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen geht – bei der Partnerwahl, bei beruflichen Karrieren, bei Freundschaftsentscheidungen oder bei der Akzeptanz in allen möglichen Teams: Wer attraktiv wirkt, bekommt sozusagen überall Bonuspunkte. Attraktiv heißt nun einmal: anziehend. Man fühlt sich hingezogen und findet den Menschen erst einmal interessanter und sympathischer als die anderen im Raum.

Aschenputtel beider Geschlechter wissen ein Lied davon zu singen. Denn sie müssen sich deutlich mehr anstrengen, um die Aufmerksamkeit der anderen oder gar der Chefs zu bekommen. Sie müssen besser sein, um dieselbe Aufmerksamkeit zu bekommen. Viel besser.

Was manchmal nicht reicht. Dann nämlich, wenn der Medieneffekt dazukommt: Visuelle Medien sind regelrecht geeicht darauf, die Attraktiven und Erfolgreichen in den Mittelpunkt zu stellen. Sie stellen ihnen weniger kritische Fragen, inszenieren sie aber öfter im Scheinwerferlicht.

Der Populismus von heute ist kein politisches Phänomen, sondern ein Aufmerksamkeitsphänomen.

In einer Medienwelt, in der Aufmerksamkeit teuer ist, ist ein attraktives Aussehen quasi der Startvorteil, der „schönen“ Menschen von vornherein mehr Präsenz in der Öffentlichkeit verschafft. Was die Düsseldorfer Forscher natürlich auch mit einer Warnung verbinden.

„Wenn politische Inhalte stärker zählen sollen als sachfremde Faktoren, dann müsste bei den Kandidaten und Wählern das Bewusstsein für diese subtilen Einflüsse des Aussehens verstärkt werden“, erklärt dazu Prof. Dr. Ulrich Rosar, der auch Dekan der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität ist. Und: Eine tendenzielle Entwicklung hin zu einer stärkeren Bedeutung der Persönlichkeit des politischen Personals bezüglich der Wahlentscheidung lasse sich seit Jahrzehnten beobachten.

Das ist der Medienfaktor. Medien produzieren diese Fokussierung. Meist ganz unbewusst. Gerade bei den Funkmedien herrscht der Herdentrieb: Das, was auch alle anderen für wichtig halten, verstärkt man, indem man es auch als wichtig behandelt.

Was aber haben die Düsseldorfer eigentlich gemessen? Und wie?

„Um Aussagen über die physische Attraktivität des politischen Personals treffen zu können, wurden bundesweit alle relevanten Spitzenkandidatinnen und -kandidaten untersucht, also diejenigen, die auf den Landeslisten Platz 1 belegen sowie alle Wahlkreiskandidaten, die bei der Bundestagswahl 2017 angetreten sind. Insgesamt konnten so 1.779 Direktkandidatinnen und -kandidaten der Parteien CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, Bündnis‘90/Die Grünen und Die Linke berücksichtigt werden sowie sieben Erstplatzierte der Landeslisten, die nicht in den Wahlkreisen direkt antraten. Dabei wurde die physische Attraktivität der Politikerinnen und Politikern auf Basis von Portraitfotografien bewertet. Hierzu wurden zwei Gruppen von jeweils zwölf weiblichen und zwölf männlichen Personen sämtliche 1.786 Fotografien vorgelegt, die anschließend von ihnen auf einer siebenstufigen Skala von unattraktiv (0) bis attraktiv (6) eingestuft wurden. Insgesamt wurden somit 42.864 Attraktivitätsbewertungen vorgenommen.“

Und dann hat man diese Schönheitsnoten ins Verhältnis gesetzt zu den Wahlergebnissen.

„Um den Einfluss der Attraktivität der Direktkandidatinnen und -kandidaten auf die erhaltenen Erststimmenanteile, die Zweitstimmenanteile ihrer Parteien und die Wahlbeteiligung zu messen, wurden mathematische Verfahren genutzt, die alternative Einflussfaktoren wie z. B. Alter, Geschlecht, akademischer Titel, Adelsprädikat, potenzieller Migrationshintergrund und Parteizugehörigkeit der Kandidatinnen und Kandidaten statistisch konstant hielten. Nun zeigte sich: Die physische Attraktivität ist die zweitwichtigste Personeneigenschaft der Kandidaten, nur der Bekanntheitsstatus der Spitzenpolitikerinnen und -politiker zeigte einen größeren Einfluss auf die Erst- und Zweitstimmenanteile“, meldet die Uni Düsseldorf dazu.

Ergebnis – nicht überraschend: Wer die Attraktivitätsklaviatur am besten beherrscht, kann damit sein Wahlergebnis spürbar verbessern.

Die Uni Düsseldorf dazu: „Christian Lindner (FDP) ist unter allen männlichen Kandidaten mit 3,43 Punkten von 6 möglichen Skalenpunkten der attraktivste prominente Politiker auf Bundesebene (Platz 30 unter den männlichen Politikern). Sarah Wagenknecht (Die Linke) ist mit 4,08 Punkten die attraktivste bundesweit bekannte Kandidatin (Platz 52 unter den Politikerinnen). Angela Merkel (CDU) kommt auf 1.04, Martin Schulz (SPD) auf 1.67, Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) auf 2.13 und Alice Weidel (AfD) auf 3.25 Punkte. In Düsseldorf und Umgebung ist Michaela Noll (CDU, Wahlkreis Mettmann I) mit 4.42 Punkten die attraktivste weibliche Direktkandidatin. Der attraktivste männliche Direktkandidat Daniel Rinkert (SPD, Wahlkreis Neuss I) kommt auf 3.46 Punkte. Es zeigt sich außerdem, dass die Wahlbeteiligung durch eine höhere Attraktivität der Kandidatinnen und Kandidaten positiv beeinflusst wird. Männer unter den Direktkandidaten haben überdies tendenziell niedrigere Attraktivitätswerte als Frauen.“

Die Interpretation, die Rosar dazu findet: „Wahlentscheidungen werden häufiger kurzfristig getroffen, bei gleichzeitiger Zunahme der Wechselbereitschaft der Wählerinnen und Wähler. In weitgehender Ermangelung umfassender und verlässlicher Informationen zu komplexen politischen Sach- und Kompetenzfragen werden Wahlentscheidungen deshalb – bewusst oder unbewusst – durch rollenferne Eigenschaften der Kandidaten wie ‚sympathisch‘ oder ‚attraktiv‘ beeinflusst.“

Wobei interessant ist, dass Rosar der so selbstverliebten Informationsgesellschaft attestiert, dass die Wähler ausgerechnet in „Ermangelung umfassender und verlässlicher Informationen zu komplexen politischen Sach- und Kompetenzfragen“ zum scheinbar einfacheren Mittel der Wahl greifen: Sie wählen schöne Menschen.

Das heißt: Die Wahrnehmung von Politik ist im Lauf der letzten Jahrzehnte immer oberflächlicher und undifferenzierter geworden. Die Menschen sind zwar überflutet mit lauter unsortierten Nachrichten – aber sie haben keine Orientierung mehr. Sie wissen nicht mehr, wofür die Kandidaten stehen – und wählen so, wie man die Mitspieler der Schulfußballmannschaft wählt – die schönen Buben sind gesetzt, der Kraftmeier mit der großen Klappe auch.

Tatsächlich zeigt die Studie, wie stark politische Wahlen mittlerweile von denselben Gesetzen diktiert werden wie die Werbung für Autos, Smarthones und Wellnessreisen. Oder mal umgedreht das Ganze: Kandidatinnen und Kandidaten, die nicht so telegen sind, die brauchen mehr von dem anderen: Selbstbewusstes Auftreten, gute Rhetorik und klar formulierte Botschaften. Und noch etwas, was man mit den Schönen im Fokus meist nicht assoziiert: eine klare Haltung, die sich auch nicht ändert, wenn man ein Werbeangebot für Würstchen, Zigaretten, Versicherungspolicen oder Pflegeshampoo bekommt.

Die Serie „Nachdenken über …“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar