Es waren diese Schilder, wie sie auf den Bildern aus Cottbus zu sehen waren, die mich stutzig machten. Nicht nur, weil sie alle so ordentlich aussehen - als hätte jemand den Auftritt der empörten Bürger wieder fleißig organisiert und dann grimmig dreinschauende junge Männer mit leichtem Übergewicht unter die kleine Menge gemischt, die da nun so etwas wie "Schnauze voll" und "Es reicht!" forderte. Diese Sprüche ...
Dass es zu den Vorfällen in Cottbus parallel zum viel zu frühen Tod der Sängerin Dolores O’Riordan kam, ist ja nur Zufall. Und dass jetzt Zeitungen, die nie wirklich viel Aufmerksamkeit für die “Cranberries” aufbrachten, auf einmal große Essays veröffentlichten zu ihrem 1994 erschienenen Song “Zombie”, das erstaunte dann schon. Weil das irgendwo doch zusammen kam. Tief unten, im dritten oder vierten Gedanken.
Da, wo man die Bilder der embrassierten Bürger von Cottbus mit den Bildern aus dem nordirischen Bürgerkrieg abgespeichert hat, den deutsche Medien gern etwas harmloser als “Nordirlandkonflikt” bezeichneten und die Engländer als “The Troubles”. Als würden da oben in Dublin nur ein paar verwirrte Katholiken ein bisschen Ärger machen.
Der Konflikt spielt in der Berichterstattung praktisch keine Rolle mehr, weil er 1998 mehr oder weniger zu Ende ging.
Und daran hatte der Song “Zombies” von den “Cranberries” einen erheblichen Anteil. Denn die Sängerin aus Limerick hielt mit ihrem Text den aufgeblasenen Bürgerkriegstreibern den Spiegel vor. Und zwar beiden Seiten: den Katholiken und den Protestanten, den Iren und den Engländern.
Denn dieser Konflikt, der offiziell seit 1969 tobte, war schon lange zu etwas anderem geworden: zu einem Phantom in den Köpfen. Kinder sind es, die im Video die Hauptrolle spielen – Kinder, die den Krieg spielen, während schwer bewaffnete Soldaten durch die Stadt patroullieren. Denn der Krieg sitzt ihnen im Kopf. So haben sie es gelernt, so wurde es ihnen beibegracht.
“It’s the same old theme since 1916
In your head, in your head they’re still fighting
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns
In your head, in your head they are dying.”
Die Kinder sind schon dazu erzogen worden, den Krieg gegen die Anderen fortzusetzen, unbarmherzig, ohne Pardon – mit Panzern und Bomben und Kanonen.
Da musste erst diese 23jährige Sängerin kommen und mit atemloser Furiosität singen, was diese ach so stolzen Kämpfer und Rechthaber und ihre Soldaten eigentlich sind: Sie sind zu Zombies geworden, zu Wesen, in deren Köpfen ein alter, sinnloser, unlösbarer Krieg tobt, der nie ein Ende nimmt.
“Ihr seid Zombies”, singt die Sängerin.
Der atemlose Song hat Wirkung gezeigt. Denn auch die scheinbar so friedlichen Politiker in London begriffen, dass sie gemeint waren. Der alte Krieg hat auch sie zu Zombies gemacht. Auf Bilder des Grauens haben sie immer wieder nur mit martialischen Aktionen reagiert – und damit dem Konflikt neue Opfer, neues Blut, neue Gründe geschafft. So werden Kriege am Leben erhalten.
Das Lied hat Wirkung gezeigt.
Und was ist das da in Cottbus?
Es sind diese Botschaften auf den Schildern, die nur auf den ersten Blick so klingen, als wollten diese grimmigen Bürger etwas beenden, was scheinbar über ihre Kräfte geht. Oder ihr Verständnis. Es ist der Ton in diesen Texten, der einem so vertraut vorkommt. Es ist ein ganz alter Ton. Manchmal war er auch bei Pegida zu hören, bei Legida, bei AfD-Veranstaltungen. Es ist ein unbarmherziger Ton, einer ganz tief aus der Erinnerung. Ein DDR-Ton.
Ein Ton der Überforderung.
Denn ein Land, das selbst zu Konfliktlösungen nicht fähig ist, das schafft auch eine Atmosphäre der Konfliktunfähigkeit. In alten DEFA-Filmen sieht man es noch. Es taucht einfach auf. Oft in simplen Familienszenen, in denen der überforderte Mann – statt auf das beharrliche Bohren der Frau zu antworten – mit Schweigen, Abwehr und jäh aufbrechender Gewalt reagiert. Oder einfach so einem sinnlosen: “Nun reichts!”
Krach, bumm, Türe zu.
Oder wenn die Kinder herumzappeln oder nicht richtig reagieren. Selbst in der Leipziger Straßenbahn sieht man solche Szenen noch, frei nach Goethes “Erlkönig”: “Und bist du nicht willig, dann …”
Es ist der kürzeste Weg vom Ultimatum zur angekündigten Gewalt. Oder um einen beliebten Autospruch sächsischer Kfz-Besitzer zu zitieren: “S’gladschd glei!”
Das finden sie wahrscheinlich sogar lustig, bodenständig.
Dass darin eine Machtdemonstration steckt, ist diesen Spaßbolden wahrscheinlich nicht einmal bewusst. Wer denkt auch schon darüber nach, dass die eigentliche Konfliktlösung erst beginnt, wenn man das Problem artikuliert hat? Dass es nicht immer nur den Einen, den scheinbar Erwachsenen gibt, der recht hat und dieses Recht auch mit einer Machtdemonstration durchsetzt?
Und so findet man nicht nur in DEFA-Filmen viele, viele solcher in Sekunden eskalierender Szenen, die oft mit Gewalt, Geschrei und Gebrülle enden. Erst spät im Nachhinein kann man all das einordnen als Hilflosigkeit einer ganzen überforderten Generation, die es von ihren Eltern nie anders gelernt hat.
Die auch ihre eingegrenzten Lebensperspektiven mit Ratlosigkeit erlebte. Denn das Wörtchen Demokratie war ja im Lande Ulbrichts und Honeckers eine Farce. Mitreden oder gar kollektive Konfliktlösungen waren gar nicht erwünscht. Auch und gerade die “führenden Genossen” konnten rabiat und tückisch werden, wenn nicht pariert wurde. Die DDR war ein gehorsames Land.
Musste jetzt mal geschrieben werden, sonst versteht keiner, warum das 1990 so schiefgehen musste, warum sich die Mehrheit der derart erzogenen (“gelernten”) DDR-Bürger 1990 nicht für einen eigenen, gleichberechtigten Weg entschieden, sondern für “Nun reichts!”, “Schnauze voll!”, “Faxen dicke!”
Alles Sprüche und Verhaltensweisen aus der schwarzen Pädagogik. Die nahtlos herübergerettet wurden in ein neues Land, das eben auch 27 Jahre später nicht zusammengewachsen ist. Wie denn auch? Dazu hätte mindestens das Gefühl der Gleichwertigkeit bestehen müssen.
Aber erwachsene Menschen mit sichtlich ergrautem Haar, Bluthochdruck und dieser tief gekränkten Miene von beleidigten Erziehungsberechtigten, die jetzt feststellen mussten, dass nicht geliefert wurde, was man bestellt hatte, und die solche Schilder tragen, die haben nicht das Gefühl der Gleichwertigkeit. Dann würden sie anders kommunizieren.
Sie verstecken ihre Hilflosigkeit hinter den alten Drohsprüchen der Eltern: “Jetzt hab ich aber die Faxen dicke!”
Und dann?
Meistens gab es dann ein paar Schellen, Zimmerarrest und gestrichenes Taschengeld. Wenn nicht Ärgeres. Denn diese Elterngeneration hatte ja selbst gelernt, dass Kinder zu tun haben, was Erwachsene verlangen. Sie haben zu parieren.
Die DDR war ein Land der Parierer.
Wer aufmüpfig wurde, bekam Probleme.”Tu, was sie von dir verlangen.” Wie oft gab es diesen dummen Spruch als Ratschlag zurecht besorgter Eltern an die Kinder?
Und eigentlich durfte man 1990 so ein Gefühl haben, dass das jetzt aufhört, dass zumindest die Jüngeren jetzt die Chance nutzen, sich mit ihren Verletzungen zu beschäftigen und Sprechen zu lernen. Die Hoffnung war kurz. Ich gebe es zu. Denn so waren sie ja nicht erzogen. Sie waren so erzogen, dass sie niemals Verantwortung für etwas übernehmen und froh sind, wenn sie nicht in eine Funktion gewählt werden. Das steckte tief in der Seele, in den Köpfen: “in your heads”. Denn wenn Köpfe dazu ausgebildet sind, zu tun, was man ihnen sagt, dann beginnen sie nicht selbst zu denken, dann delegieren sie auch Macht und Verantwortung wieder – und erwarten dann, dass sie richtig regiert werden.
Und 1990 gab es genug freundliche Politiker aus westlichen Landen, die nur zu gern bereit waren, es für die braven Ostdeutschen zu tun.
Ein Abzweig geht hier übrigens zu dem fatalen Spruch: “Meine Sachsen sind keine Nazis …”
Aber den gehen wir jetzt nicht. Sonst wird das ein ganz großer Ausflug.
Wer gelernt hat, zu tun, “was sie sagen”, der erwartet natürlich trotzdem eine Belohnung. Und wird zunehmend verbiesterter, wenn das nicht passiert. Oder greift zu ganz alten Verhaltensmustern, wenn sich herausstellt, dass das ganze Warten und Parieren ein Selbstbetrug war, wenn die neue Gesellschaft statt freundlicher Belohnung und stiller Ruhe auf einmal Herausforderungen und Verunsicherungen mit sich bringt – wie die Flüchtlinge, die seit 2015 bei uns Zuflucht gefunden haben.
Und dann Angela Merkels saudummer Spruch: “Wir schaffen das …”
Das wäre der nächste Abzweig: Was alles in diesem falschen und verlogenen Wir steckt.
Aber auch den gehen wir jetzt nicht.
Denn der Spruch selbst war das Signal, dass die stillen und Braven ganz und gar nicht gefragt werden würden. Die da oben würden das schon machen.
Haben sie auch.
Deswegen wirkte die ganze Unterbringung der Flüchtlinge auch wie “von oben gewollt”. So wie früher die Spendenaktionen für Vietnam oder die “Waffenbrüderschaft”.
Wahrscheinlich ist es wirklich so: Genau diese braven, so gern in ihrer Unverantwortlichkeit vor sich hinköchelnden Ostdeutschen konnten im Jahr 2015, 2016, 2017 nicht mehr ausweichen. Die Anwesenheit der Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg geflüchtet waren, direkt in ihrer sentimental verklärten Heimat (“Heimatliebe ist kein Verbrechen!”) hat ihnen erst gezeigt, dass sie das Ganze doch etwas angeht. Dass sie nach 27 Jahren doch endlich aus ihren kleinen heilen Welten herauskommen müssten und sich kümmern.
Mit anpacken, Lösungen suchen, sich einbringen. Das, was man macht, wenn man begriffen hat, was Demokratie eigentlich ist.
Aber das hatten sie nicht gelernt. Sie reagierten mit Überforderung. Denn genau das sagen ja die Sprüche: “Faxen dicke!” Deswegen wirken ihre Posen auch so bedrohlich. Sie möchten mächtig wirken. “Wir sind das Volk! WIR!”
Das ist der Moment, in dem sich das ganze leidige Phlegma der DDR zeigt. Es ist alles noch da. Der alte Zuchtmeister sitzt noch immer in den Köpfen.
“Wer nicht hören will, muss fühlen.”
“Wenn du nicht spurst ….”
“Der Klügere gibt nach …”
Nein. Der Klügere lernt Karate und wehrt sich. Diese Alptraumgestalten haben unsere Köpfe besetzt. Sie laufen drohend, maulend und schilderschwingend darin herum. Sie wollen, dass wir ihre Alpträume teilen und tun, was sie sagen. “Jetzt aber dalli …”
Wahrscheinlich wurde kein Spruch in der DDR öfter gesagt als dieser. Das nächste Wörtchen “sonst” musste gar nicht mehr ausgesprochen wurden.
Die DDR war ein infantiles Land. Bis zum Schluss unfähig zu dem, was die ratlosen Bonzen dann “Dialog” nannten. Denn Dialog setzt Gleichwertigkeit voraus. Menschen, die Schilder mit “Faxen dicke” hochhalten, fühlen sich nicht gleichwertig. Sie fühlen sich gleichzeitig unter- und überlegen. Und trotzdem machtlos.
Was auch an den Schleifen im Kopf liegt. Es sind die alten Gespenster, die uns zu Zombies machen. Wir leben nicht selbst. Wir funktionieren und haben die Drohgebärden der Alten im Kopf.
Natürlich kann man das auflösen. Aber nicht mit solchen Schildern auf der Straße. Und dieser grimmigen Erwartung, die Anderen würden jetzt einfach tun, was man verlangt, sonst …
Daran ist die DDR übrigens gescheitert, an diesem “sonst …”.
Wenn als Drohung nur noch die Eskalation zur Gewalt bleibt, ist etwas gründlich schiefgelaufen.
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