Es muss am Tag nach Neujahr gewesen sein: Latent erschöpft aussehendes Verkaufspersonal räumte soeben noch geschäftig die Weihnachtsdekoration und allerlei Feuerwerksraketen beiseite, als schon die Ausrüstung für den neuen anzubellenden Mond herbeigeschoben wurde: die Karnevals-Utensilien.
Karnevalsutensilien aller Couleur, aller Kunststofflichkeit, alle Facetten der Gesetze der Harmonie knapp verfehlend. Vor meinem inneren Auge wurde umgehend getanzt: frenetisch feiernde, enthemmte Menschen, Frauen, die über ihren Netzstrumpfhosen den Rock vergessen zu haben schienen, darüber jedoch keineswegs unglücklich aussehende Männer mit Polizeimützen, kreischende Sachbearbeiterinnen beiderlei Geschlechts mit Kunsthaar.
In Farben, bei denen man Ray Charles das erste Mal nicht ausschließlich das Gesangstalent zu neiden begann.
Man merkt vielleicht: Meine Freude am Karneval ist nur wenig größer als Andorra. Ich bin eben nicht in Köln oder in Mainz aufgewachsen, wo man schon soziale Unruhen riskiert, wenn man am Rosenmontag jemanden telefonisch zu erreichen sucht. In meiner Stadt versteht sich das Faschingsfest vor allem in der Tradition studentischen Ringelpiezes mit Anfassen, in dessen Rahmen schon Generationen von Leipzigern ihre Zukünftige(n) gefunden haben sollen. Oder losgekriegt. Je nach Schicksal.
Trotzdem gönne ich einem jeden von Herzen die Freude an der Maskerade. Besitzt sie doch Geschichte und vielerlei Sinn – selbst dann, wenn sie in so pragmatisch hemdsärmeliger Ausprägung daherkommt wie im Faschingstreiben. Überbordender Enthusiasmus am karnevalesken Verkleidungszwang ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber allemal besser, als bedrängten sich im Spätwinter Hundertschaften von Menschen mit langwierigen Schilderungen über ihre letzte depressive Episode.
Dann doch lieber Maskenfest
Die Freude an der Maskerade hat schließlich auch etwas bestrickend Kindliches. Kinder haben meist unbändigen Drang, sich zu verkleiden, um in ihren Phantasiewelten ganz authentisch zu sein. Und sie tun es auch – jederzeit, wenn ihnen danach ist. „Heute will ich mal als Cowboy gehen, Mami!“, teilt einem das Kind an einem Hochsommermorgen mit und ist schon mit Fransenweste und Hut aus der Tür. Mein Neffe erschien übrigens ein Jahr lang im Kindergarten jeden Morgen mit einem Bobbyhelm.
Wenn wir jedoch als Erwachsene mit solcherlei Gewohnheiten aufwarteten, liefen wir Gefahr, als sehr exaltiert zu gelten. Wahrscheinlicher noch: Man riete uns zu Medikation.
Im Grunde ist dies neben dem Steuererklärungszwang ein weiterer betrüblicher Aspekt des Erwachsenseins: Selbst so etwas wie die offenbar eng zum Menschsein gehörende Maskerade muss ritualisiert ablaufen. In unserer westlichen Welt bleibt letztlich nur der Karneval oder der Maskenball dafür vorbehalten. Dabei benötigten wir sie vielleicht sogar dringender als der Nachwuchs?
Kindern steht die Welt offen. Sie können sich noch in jedwede Richtung wenden. Wege wählen. Beziehungen ausprobieren. Als Erwachsener hat man sich in vielerlei Hinsicht entschieden: für einen Ehepartner, für einen Ort, für einen Beruf, für ein Lebenskonzept. Das ist an sich auch nichts Beklagenswertes.
Wir wirken damit verlässlich, geben unserer Umgebung feste Orientierungspunkte für den Umgang mit uns. Man hat seine Rollen angenommen: als treusorgender Familienvater, als gewissenhafter Systemadministrator, als beschützend-vernünftige Familienmanagerin, als korrekter Heckenschneider im Vorgarten.
Dass man da ab und zu auch mal raus möchte, um zumindest einmal im Jahr den Interimshengst zu geben, den geschlechtslosen Clown für einige Stunden oder das verführerische Kätzchen für eine Nacht, das ist schließlich allzu verständlich. Denn dies bietet nicht nur Ventilfunktion, sondern besitzt vermutlich auch eine nachhaltig positive Wirkung auf unsere Psyche.
Ein – wenn auch kurzes – Abtauchen in fremde Identitäten kann geradezu als Push-Up-Effekt fürs Selbstbewusstsein wirken: Man weiß plötzlich wieder, man könnte auch als jemand anderer bestehen und erlebt live und in Farbe, wie sich der Mitmensch in seiner Rolle fühlt – für den gegenseitigen Umgang der Menschen gewiss nicht von Nachteil. Ein paar Tage mehr im Männerballett wären für das Verständnis zwischen den Geschlechtern womöglich zuträglicher als manch verbitterte Gender-Diskussion.
Hieße das aber nicht in aller Konsequenz, dass man das Karnevalsfest umdeuten sollte, in das eigentliche Fest der Liebe?
In unserer – sich von der mittelalterlichen Ständegesellschaft mittlerweile leicht unterscheidenden – westlich zivilisierten Welt halten doch vermutlich nur noch wenige ein paar Tage der maskierten Ausgelassenheit tatsächlich für eine Zeit der auf den Kopf gestellten Zustände, für eine Zeit der Laster- und Triebhaftigkeit, des „Nicht-An-Morgen-Denkens“.
Wenn man konsequent optimistisch-milde über den Menschen dächte, könnte man es tatsächlich für eine gute Idee halten, mehrfach im Jahr Fastnachtszustände zuzulassen, um deren reinigenden und brückenschlagenden Effekt längeranhaltend in die Menschen einzupflanzen.
Bedauerlicherweise tut der Mensch jedoch nicht selten einiges dafür, um nicht ausschließlich wie die Inkarnation Mutter Teresas auf Erden zu gelten. Und so bieten Verkleidungen, die schließlich das Verschwinden in der Anonymität bedeuten, ihm deshalb seit jeher auch reichlich Gelegenheit zum Tabubruch, zum Regelverstoß, zu anarchistischem Tun. Das Dionysische konnte das Apollonische eben noch nie lang allein lassen. Und zwölfmal im Jahr Komplett-Alarmbereitschaft überspannt dann möglicherweise aber doch unsere fragile Moderne. Nicht zu vergessen: Nerven tragen bekanntlich ganzjährig Kostüm.
Wir sehen: Es bleibt kompliziert, einem Außerirdischen uns Menschen zu erklären. Im Grunde tragen wir stets Masken, um die Nacktheit unserer Seele zu schützen, um eine (vielleicht falsch verstandene) Zivilisation aufrecht zu erhalten. Dann stülpen wir uns zu einem verabredeten Zeitpunkt weitere Masken über, um endlich einmal der zu sein, der man wirklich ist, um noch optimierter zu erscheinen oder um schlichtweg für ein paar Augenblicke ein kleines anderes Leben auszuprobieren.
Wer vermag schon zu sagen, was unser wahres Gesicht ist?
Wer vermag schon alle Gründe zu nennen, warum wir Masken aufsetzen? Heinrich Böll soll einmal gesagt haben, dass wir mit einer Maskierung jedes Mal zwangsläufig auch unser wahres Gesicht zeigten und zwar dann, wenn wir die Maske wieder abnehmen.
„Wer […] so plötzlich in Gesichter blickt, die von ihrer Maske entblößt sind, sieht für diesen einen Augenblick, der keine Sekunde währt, plötzlich ein menschliches Gesicht ohne jene Alltagsmaske, die wir alle tragen.“
Vielleicht genügt dieses Wissen, um uns zu verstehen. Im besten Fall sogar, um einander zu verstehen.
Die neue LZ ist da: Silvesterknaller, Treuhandschatten, Sondierungs-Gerumpel und eine Stadt in der Nahverkehrs-Klemme
Silvesterknaller, Treuhandschatten, Sondierungs-Gerumpel und eine Stadt in der Nahverkehrs-Klemme
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