Es geht mir nicht aus dem Kopf, dieses schräge Wort „Beheimatungsbedürfnis“, mit dem Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse meinte, die Heimat-Diskussion in der SPD anreichern zu müssen. Ein Wort, bei dem man unwillkürlich Worte in den Kopf bekommt wie Erbsensuppe, Pfarrer Kneipp, Sissy, Holzmichel oder „Unsere Heimatsender brauchen mehr Geld“. Vielleicht liegt’s am Alter. Der gute Wolfgang ist nun auch schon 74.

Und ob der in Berlin wohnende Germanist (der so eine kleine, wortkräftige Abneigung gegen Schwaben hat), mit Heimat seine Geburtstadt Wroclaw meint oder seine Kindheitslandschaft Eisfeld, das war aus der rundum kolportierten Meldung nicht herauszulesen. Eben nur, dass der studierte Mann das Thema so abstrakt behandelt, als wäre Heimatlosigkeit eine Art Krankheit, von der man die Menschen heilen muss. Vielleicht nicht unbedingt mit Abschiebungen, wie das sächsische Innenminister derzeit bevorzugen. Aber vielleicht mit Kurpackungen, die einem wieder etwas Linderung verschaffen bei all den Schmerzgefühlen fehlender Heimat.

Dass mein Großvater solche Gefühle hatte, kann ich noch verstehen. Er hatte mit seiner ganzen Familie tatsächlich die alte Heimat im ferneren Osten verloren, wo die Leute bis zu den Affenklapsereien der Nazis sehr friedlich und sehr international und interreligiös miteinander lebten. Nachlesbar bei einem der besten unserer Autoren, dessen 100. Geburtstag in diesem scheidenden Jahr fast so sang- und klanglos vorbeiging wie sein Leben in der DDR: Johannes Bobrowski. Viel zu früh gestorben. Aber allein für „Levins Mühle“ hätte er den verdammten Literaturnobelpreis verdient. Den bekanntlich dann ein anderer aus diesem bunten Osten bekam: Günter Grass für seine „Blechtrommel“.

Beide Bücher darf man ruhig wieder lesen. Sie erzählen beide von Heimat. Liebevoll, ironisch, nicht die Bohne larmoyant, wie das bei den meisten deutschen Autoren passiert, wenn sie anfangen, aus ihrer Kindheit und ihren geräucherten Heimatgefühlen zu erzählen. Es darf durchaus heimelig werden.

Aber mit solchen Büchern mache ich es für gewöhnlich wie Harald Schmidt: Ich schmeiße sie umgehend fort. Ich halte dieses Gesäusele und Goldige nicht mehr aus. Diese Marzipan-Weihnachtswelt, in der auf einmal so ein güldener Schimmer von oben auf eine verkitschte Familieninstallation fällt.

Die mit unserem realen Erleben von Heimat nichts zu tun hat.

Den meisten jüngeren Leuten, die dieser Tage wieder nach Hause fahren, geht es so wie in Christian Hubers „7 Kilo in 3 Tagen“. Sie kommen in eine Puppenhülle zurück, die nicht mehr passt, wo sie eine alte Rolle spielen müssen und von einem Fettnäpfchen ins nächste treten, weil sie gar nicht mehr wissen, was dahoam alles passiert ist in den letzten Jahren.

Und die meisten jungen Leute haben diesen Besuch daheim dieser Tage auf dem Terminplan. Ein Pflichttermin, bei dem sich die meisten gegenseitig etwas vormachen. Die Alten, Daheimgebliebenen versuchen, die alten Rituale einer verklärten Frühzeit wieder aufleben zu lassen und versuchen zu zeigen, wie toll sie sind als gastgebende Eltern. Und nur ganz leise schwingt der Vorwurf überall mit, dass die Kinder nicht häufiger kommen. Ohne Weihnachten wahrscheinlich gar nicht mehr.

Das wird in der hessischen Provinz nicht anders sein als in der sächsischen. Nur dass sächsische Kinder damit rechnen müssen, auch noch mit all den verdrucksten Vorwürfen konfrontiert zu werden, die sich hier seit ein paar Jahren breitmachen, selbstgefälligen Feststellungen zu Ausländern, Politikern, Linken und Medien. „Muss man doch mal sagen dürfen, Kind!“ – Wie viele junge Sachsen fahren dieses Jahr eben deshalb nicht wieder in die „Heimat“? 1.000? 10.000?

Natürlich hat das auch damit zu tun, dass die Alten ein völlig anderes Verhältnis zum Heimischsein haben als die Kinder. Mal ganz zu schweigen davon, dass schon der Heimatbegriff von Mensch zu Mensch differiert. Das reicht vom verkitschten Heimatbegriff der sächsischen Tourismuswerbung bis zu den Sentimentalitäten, mit denen ein paar Zurückgebliebene versuchen, ihr Flüsschen, ihr Wäldchen, ihren Hinkelstein für etwas ganz Besonderes und Einmaliges zu erklären. Und dann auch noch annehmen, den Kindern ginge es genauso: „Erinnerst du dich, wie ihr damals …“

Schamröte pur. Genau an solche Peinlichkeiten will sich der Heimgetriebene meist ganz und gar nicht wieder erinnern lassen. Denn sein Koordinatensystem der Kindheit ist ein anderes. Die wichtigsten Dinge sind dort passiert, wo Eltern nie hinkommen. Und dann, wenn sie garantiert nicht unverhofft die Tür aufmachen konnten: „Ich wollte nur mal gucken …“

Der Flecken Herkunft, mit dem uns wirklich was verbindet, ist meistens ein Flickenteppich.

So einer wie in dem Song von The Pogues „Dirty old Town“.

Das ist die alte Mauer des Gaswerks, wo man seine (erste oder fünfte) Liebe traf, der kalte Kanal, wo man selbst an fiesen Tagen hockte und von einem Leben träumte, in dem es ein bisschen heftiger zuging als in diesem Nest, wo man nachts die Züge über die Brücken fahren sah. In diesem Fall natürlich auch noch so ein richtig altes Industrierevier. Auch vorbei. Aber egal. Die Schablonen unserer Kindheit sind schon lange nicht mehr identisch mit den Heimatbildern, die goldlockige Regisseure jedes Jahr für den Heimatsender produzieren, Typen, denen man ansieht, dass sie niemals jung waren. Und wenn sie mal eine Kindheit gehabt haben sollten, dann bestimmt eine mit Goldengeln und Heino-Weihnachtsliedern.

Weltfremdes Gejauchze.

Deswegen machen Leipzigs Musikkneipen zu Weihnachten richtig Umsatz. Der heimische Weihnachtsschmalz ist einfach nicht mehr auszuhalten.

Aber was ist dann Heimat? Hat Onkel Doktor Thierse nicht etwas Lebensnotwendiges diagnostiziert? Fehlt uns da nichts, wenn wir auf diese wohlmeinende Heimschickung doch lieber verzichten?

Natürlich fehlt uns nichts. Denn was diese Liebhaber von Plüsch und Tinneff als „Heimat“ versuchen zu verramschen, ist drittklassige Ware, ein Plagiat – in diesem Fall nicht aus Fernost, sondern aus den hochtoupierten Köpfen phantasieloser Herren, die ihr Lebtag nicht herausgekommen sind aus Heidi-Land. Sie schleppen es überall mit hin und werden grantelig, wenn man ihnen sagt, dass man ihren Plunder nicht haben möchte. Dieses jämmerliche Gejaule mit der Anfangszeile „Denk ich an Deutschland in der Nacht …“, von dem diese Biedermänner nicht mal die restlichen Strophen kennen.

Den alten Jammerklößen fehlt augenscheinlich, was Heine am Ende des Gedichtes aus der Wehmut erlöst: „Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen / Und lächelt fort die deutschen Sorgen.“

Vielleicht hat Doktor Thierse ein Beheimatungsbedürfnis. Kann sein. Vielleicht hat auch die ältere SPD-Spitze eins. Vielleicht ist ihnen aber nur zu bunt, was die jungen Leute treiben, die aufgewachsenen sind in einem Land, in dem einem kein preußischer Douanier klar macht, wo hüben und wo drüben ist und welche Bijouterien in Preußen unerwünscht sind. Auch kein sächsischer Douanier. Die meisten von ihnen sind in Welten zu Hause, in die sich die Älteren meist nie gewagt haben. Obwohl das Alter dafür nie ein Hindernis war. Ich kenne herrliche Groß- und Urgroßeltern, die mit den Enkeln fasziniert diese Welten erkunden.

Nicht viele, stimmt.

Wenn zu viele von diesen Missmutigen und Nicht-Neugierigen allein zurückbleiben in diesen hübsch sanierten Dörfern und Vorort-Reihenhaussiedlungen, dann beginnen die Dinge zu erstarren. Dann knutscht auch niemand mehr an der Mauer vom Gaswerk. Dann wartet kein Schwein mehr am Bahnhof, wo eh keine Ferkeltaxe mehr hält. Dann fährt man stolz wie Bolle im Familienkombi zum wöchentlichen Einkauf und hält die Auswahl im Supermarkt für das Tor der Welt. Und guckt ziemlich blöd, wenn dann die Heilige Familie persönlich dort auftaucht und sich den Korb mit Brot und Gemüse vollpackt. Und Windeln fürs Kind.

Man hört die biblischen Dorfbewohner schon regelrecht wispern: „Was wollen die denn hier?“

Heimat ist in der Vorstellung dieser Leute ein permanent gefährdeter Ort. Irgendetwas aus Pappmaché, nicht wetterbeständig, leicht wegzupusten. Und nachts streicht dann auch noch der Wolf ums Haus.

Und je mehr über diese Zuckerwattevariante von Heimat geredet wird, umso seltsamer kommen mir diese Rauschebärte vor. So ein bisschen wie Barbarossa, der da seine 1.000 Jahre im Kyffhäuser abschläft. Bis irgendeine Truppe verwirrter alter Männer ihn vielleicht wieder braucht, damit er voranreitet. Wohin auch immer. Haben Sie auch so ein seltsames Gefühl? – Dann nüscht wie weg.

Ach ja – und noch das Original von “Dirty old Town”.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

Fast so etwas wie eine Geburtstagsausgabe – Die neue LZ Nr. 50 ist da

Über das Trotzdem-Zeitungmachen, alte Sachsen-Seligkeit, die Bedeutung des Kuschelns und die Träume der Leipziger

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

“Haben Sie auch so ein seltsames Gefühl? – Dann nüscht wie weg.”
Hm. Gute Idee eigentlich.^^

Schreiben Sie einen Kommentar