Der erste Schnee fällt. Am Bahnhof versucht man, die Obdachlosen heute mit Klängen aus Tschaikowskis Nussknacker-Suite zu vertreiben, während sich im Spiegelzelt eine Luftakrobatin in einer Kristallkugel dreht und man auf dem Weihnachtsmarkt bei Glühwein und Bratwurst über Trumps Jerusalem-Rede, Enthüllungen im Fall von Oury Jalloh und den Wert des Hashtags MeeToo scherzt.

Ich wurde eingeladen, zu träumen und ich stelle mir vor, ich befände mich dabei auf einem Spaziergang durch die Parks von Leipzig. Auf meinem Weg wäre ich ganz allein und beobachtete ein Blässhuhn, das seinen Kopf in den Teich taucht, während sich die letzten blassgelben Blätter einer Birke von den Zweigen lösen und durch die klare Luft auf die schwarze weiche Erde trudeln.

Ich träume davon, diese Stimmung ließe sich übertragen – auf die Bühne oder in einen Text und sie würde uns genügen. Denn seit längerem schon mache ich mir Gedanken über ein Moment, ohne das meine Dramen und sowieso die meisten Dramen nicht auskommen.

Ich meine das Moment der Kollision und ich meine, dass Dramen ohne Kollisionen, ohne Konflikte, ohne Streit und ohne Kämpfe schwerlich unser Verlangen nach dem Spektakel befrieden könnten. Sie wären langweilig. Wären sie es! Möglicherweise wäre die Langeweile im Theater der wirksamste Verfremdungseffekt unserer Zeit, das beste Instrument, um unsere Wahrnehmung zu entautomatisieren.

Schon weitet sich, ausgehend vom Theater, in konzentrischen Kreisen die Langeweile und eine Ruhe breitet sich aus, die lange in unserer Stadt weilt. Plötzlich schwebt über der Stadt eine lange Weile, in der wir – die Telefonistinnen in den Callcentern, die Arbeiter auf den Dächern, die Lehrerinnen in den Förderschulen, die Geflohenen auf den Ämtern, die Schauspielerinnen auf der Fahrt zu den Krimidinnern, die Bankkaufleute in der Kreditberatung, die alleinerziehenden Mütter am Wickeltisch – Zeit haben, Zeit für das Nichts, Zeit für die Stille in uns, für den Stillstand, den Aufstand gegen den unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Zwang zur Beschleunigung.

Leipzig könnte ein Versuchsfeld der Langeweile sein und wir könnten in ihr einen Zustand erlangen, in dem es allen möglich ist, müßigzugehen ohne sich dabei schuldig oder unnütz zu fühlen. Ich stelle mir vor, diese Stadt bliebe für einen Moment stehen in der Gewissheit, dass dieser Moment ausgleichend wirkt, der Ausgleich die Stadt harmonisiert und unsere spektakuläre Zeit in eine lange Weile überführt. Diese Langeweile unterbräche den Fluss des ewigen übermüdeten Fortgangs; wir erlebten in ihr einen Stillstand, der unser Leben rhythmisiert wie die Stille die Musik rhythmisiert. Leipzig wäre erfüllt von einem Tanz der langen Weile.

Olav Amende ist Schriftsteller und Regisseur und tritt regelmäßig in Lesungen in Leipzig und Umgebung auf Lesebühnen und im Radio sowie bei Theater- und Kurzfilmauftritten auf. Stationen waren bislang ua. das Neues Schauspiel Leipzig, die Cammerspiele und Theaterrezensionen beim Leipzig Almanach.

Alle Träume, welch bereits veröffentlicht sind, finden Sie ab sofort hier in steigender Anzahl unter dem Tag l-iz.de/tag/traeume.

Eine Reihe kehrt zurück: Wenn Leipziger träumen

Wenn Leipziger träumen

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