Sigmar Gabriel, den einige deutsche Zeitungen schon so gern im politischen Nirwana entsorgt hätten, hat mit seinen Äußerungen zu Heimat und Identität ein veritables Fass aufgemacht. Auf einmal wird selbst in renommierten Zeitungen wie der „Zeit“ und der F.A.Z. über Heimat diskutiert, geht es aber auch munter durcheinander, weil selbst alte Schlachtrösser wie Wolfgang Thierse aus ihrem romantischen Heimatverständnis nicht herausfinden.
Wobei gerade Thierse mit seinem Statement gezeigt hat, wie sehr die politische Republik schon dem Narrenmärchen von der konservativen „Leitkultur“ auf den Leim gegangen ist: „Sigmar Gabriel hat Recht. Die SPD muss jetzt diskutieren, welche Konsequenzen sie aus der Wahlniederlage vom September zu ziehen gedenkt“, zitiert ihn z. B. die F.A.Z. „Und er hat Recht damit, dass zu dieser Diskussion auch Fragen nach kultureller Identität und dem legitimen Beheimatungsbedürfnis der Menschen gehören.“
Da hat man doch gleich flotte Schalmeienklänge im Ohr. Kulturelle Identität? Hat er da zu viel romantische Heimatliteratur gelesen, so als alter Germanist?
Dass er tief drinsteckt in dieser grassierenden Interpretation von Kultur und Heimat, belegen auch die anderen Zitate. Deutschland bestehe nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern auch aus alltagskulturellen und geschichtlichen Prägungen, zitiert ihn die F.A.Z.: „Diese Prägungen sind wichtig für unser aller Zusammenleben. So wichtig, dass Sozialdemokarten und Linke sie ernst nehmen sollten, anstatt sich reflexhaft in missliebige Begrifflichkeiten zu verbeißen.“
Darauf ein Humtatata. Es ist Quatsch. Es ist quasi die weichgespülte Variante von „christlichem Abendland“ und „Leitkultur“. Das, was schwermütige Germanisten sich zusammendenken, wenn sie versuchen, den deutschen Heimatbegriff aus alten Romanen, Märchen und Erzählungen des Biedermeier zusammenzudestillieren. Denn das ist alles reiner Biedermeier, das, was Heinrich Heine seinerzeit als „gehaltlose Tendenzliteratur“ bezeichnete.
Wenn sich die SPD tatsächlich in diesen romantischen Schlamassel hineindiskutieren will, dann können wir uns an dieser Stelle schon von der großen alten Dame der Gefühlsduseligkeit verabschieden. Hier wird jetzt zurückgewandert ins Land der braven Mädchen, Fliedermütterchen und Blauen Blumen.
Tschüssi.
Nein, das „legimtime Beheimatungsbedürfnis“ gehört ins Reich der Fabeln und Sagen und Bechstein-Märchen, der Bambi-Filme und Zwerge.
Es gibt kein legitimes Beheimatungsbedürfnis. Da darf der Germanist durchaus mal bei den Nachbarn von der Soziologie anklopfen. Was es gibt, ist ein Strauß von elementaren Bedürfnissen, die der Mensch tatsächlich hat. Die kann man unterschiedlich definieren. Aber die Soziologen sind sich einig, dass sie in eine gewisse Hierarchie gehören – mit den existenziellen Grundbedürfnissen ganz unten. Und dann meist sortiert nach sozialen und Sicherheitsbedürfnissen bis hin zur Spitze, wo es meist um Selbstverwirklichung geht. Nicht alle sind mit Maslov einverstanden.
Auch weil einige unserer Bedürfnisse miteinander konkurrieren.
Das merkt man meistens, wenn man jung ist und auf einmal vor verwirrenden Entscheidungen steht. Dann konkurriert auf einmal das Bedürfnis nach Freiheit, Selbstbestimmung und Kreativität ganz unmittelbar mit unseren Bedürfnissen nach Geborgenheit und Sicherheit. Ganz unmittelbar. Und die meisten jungen Leute entscheiden sich – Überraschung! – für die Selbstbestimmung. Sie packen ihre Sachen und verlassen den Ort, der ihnen als Heimat zu eng, zu klein, zu vermufft geworden ist.
Bedürfnis nach Beheimatung? Dass ich nicht lache.
Aber woher kommt dieser Wunderglaube, der über eine verquaste „Leitkultur“ oder den Quatsch von „kultureller Identität“ wieder so ein altes Heimat-Feeling zurückholen will? Warum glauben alte, verkopfte Männer, sie müssten den Menschen eine „Identität“ einreden, wo die alte „Heimatverbundenheit“ sich so sichtlich vor ihren Augen auflöst?
Weil sie es sich zu einfach machen und bei den romantischen deutschen Großdenkern nach Lösungen suchen, statt nach dem elementaren Problem zu fragen.
Und das steckt eben nicht darin, dass die (jungen) Menschen sich heimatlos fühlen (höchstens dann, wenn sie unter alle diese grauhaarigen alten Quatschköpfe geraten, die ihnen so fürchterlich fremd geworden sind mit ihrem ganzen vorwurfsvollen Gerede). Es steckt eher in einem Problem, das die Alten haben, die nämlich zunehmend das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. Sie retten sich in alte Schablonen. Aber ihnen ist höchst suspekt, wenn (junge) Menschen einfach mal die Bezugssysteme wechseln und sich in Berlin, Paris oder Lissabon wohler fühlen als in Wilmersdorf, Güstrow oder Parchim.
Denn beim Heimischfühlen (was etwas völlig anderes ist als diese schulmeisterliche Beheimatungsbedürfnis) geht es um vertraute Koordinaten, um eine Lebenswelt, in der sich ein Mensch zu Hause fühlt, geborgen, sicher, aber noch viel wichtiger: souverän.
Denn diese Bestärkung durch das (selbst gewählte) Lebensumfeld bekommt man nur, wenn man sich darin auskennt, wenn man alles darin findet, was man für das eigene Leben braucht, wenn man vor allem genau die Menschen darin findet, mit denen man sich wohlfühlt und die einen bereichern.
Heimat ist ein Konstrukt. Und so wie es Wolfgang Thierse rekonstruiert, ist es ein Konstrukt aus dem Jahr 1830. Ein biedermeierliches, spätromantisches. Mörike und Uhland lassen grüßen.
Aber es hat nichts mehr mit der heutigen Wirklichkeit zu tun, die den Menschen auch die Freiheit gibt, sich einen Ort der erlebten Souveränität selbst zu suchen.
Völlig zum Tort all dieser alten Abendländer, die glauben, sie könnten die jungen Menschen einfach in den banalen Welten einsperren, die sie als Leitkuh, sorry: Leitkultur hinstellen. Nur dass diese „Leitkultur“ hohl und leer ist. Es ist nichts drin. Nicht mal ein Gedanke.
Und schon gar nicht das, was Menschen brauchen, um das Gefühl zu haben, den Lebensraum, in dem sie sich aufhalten, zu beherrschen.
Hinter der ganzen „Leitkultur“-Debatte steckt die Bevormundung von Leuten, die es einfach nicht aushalten, dass andere Leute nicht nach ihrer Pfeife tanzen und sich einfügen wie Schafe. Es ist ein Topos der Ausgrenzung. Denn weil er so leer ist, kann er gegen jeden angewendet werden, der nicht pariert.
„Diese Prägungen sind wichtig für unser aller Zusammenleben“, meinte Thierse.
Was für ein Unfug. Diese Prägungen bringen die einen in die Behandlung eines Psychotherapeuten, weil sie sich ein Leben lang völlig sinnlos quälen. Und die anderen werden damit zu arroganten Wiederkäuern, die einem ständig mit diesen Prägungen aus ihren muffigen Kindheitsstuben kommen und damit signalisieren: Bleib zu Hause. Da draußen ist es gefährlich. Es sind Prägungen, mit denen die Souveränität des Menschen immer wieder infrage gestellt wird: Darf er das? Was erlaubt sich der eigentlich?
Heimat als Topos der Ein- und Unterordnung.
Natürlich darf und muss man über Heimat diskutieren. Aber das hat nichts mit Prägungen zu tun, sondern mit der Ermöglichung eines souveränen Lebens.
Das war früher mal ein sozialdemokratischer Gedanke. Erstaunlich, wie billig der heute verramscht wird, um sich bei den Abendländlern anzubiedern.
Die ganze Serie „Nachdenken über …“
Es gibt 2 Kommentare
Und sozialdemokratische Gedanken sind ja unserer “S”PD zutiefst suspekt. Davon sind sie weiter weg, als es Bismarck je war.
Ein Umtata auf den Kommentar – ein Hoch auf Herrn Julke! Weswegen ich übrigens für Zuwanderung bin: ich möchte mit diesen Alten nicht allein bleiben!