„Wird die Rechtschreibung bewertet?“ Nahezu jeder Lehrer kennt sie, die ängstliche Frage der Schüler, die bei manch einem klingt, als ginge es um Leben oder Tod. Auch wenn Kommafehler niemandem den Kopf kosten und man über die Rolle von Rechtschreibkenntnissen im Zeitalter hochentwickelter PC-Korrekturprogramme geteilter Meinung sein kann, alarmiert die wachsende Zahl derjenigen, die erst gar nicht zu einer sicher anwendbaren Lese- und Schreibfertigkeit gelangen – und damit die Richtigkeit von Geschriebenem gar nicht anzweifeln.
Außerdem gilt: Noch immer wird ein Großteil des Lehrstoffs über geschriebene Inhalte vermittelt, die Gesamtheit der schulischen Leistungen gerät für einen Legastheniker rasch in eine prekäre Schieflage, Versagensängste prägen häufig die weitere Entwicklung. Ratlose Eltern verlieren sich nicht selten in einem dichten Gestrüpp an Schuldzuweisungen, hilflosen Ratschlägen und verlorener Nerven.
Was viele nicht gern in ihrer Schildpattbrillen und Montblanc-Füller-Welt wahrnehmen wollen: In der Schulrealität sind diese Eltern auch jenseits der Gymnasien anzutreffen. Und vor allem: Sie sind in der Überzahl. Insofern sind die Fragen Jan Fleischhauers, die er in seiner aktuellen Spiegel Kolumne stellt, nicht nur an der Wirklichkeit vorbeischrammend, sondern auch die komplett falschen: Am genannten Orte wundert sich dieser nämlich: „Wenn ein Fünftel der Grundschüler nach der vierten Klasse nicht richtig lesen und schreiben kann, was sagt uns das über die Eltern? Oder anders gefragt: Ist Armut eine Entschuldigung, den Kindern nicht vorzulesen?“
Herr Fleischhauer irrt in dem Bestreben, wenn er Armut als Entschuldigung für irgendetwas heranzuziehen versucht. Armut ist vor allem eines: Wenig akzeptabel. Jede andere Haltung demonstriert en passant ein „Sich-Abfinden“ damit. Wer von Armut nicht umgeben sein will, muss sie bekämpfen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Da hilft es auch nicht, die Klassengrenzen zwischen Arm und Reich unsauber zu verwischen oder wie es im Original heißt: „Die Klassengrenze verläuft nicht entlang der Grenze zwischen Arm und Reich, sondern zwischen gebildet und ungebildet. Dass beides eng miteinander zusammenhängt, das ist evident. Trotzdem macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ich mangelnde Bildung auf Armut zurückführe oder auf Desinteresse.“
Fleischhauer übersieht dabei etwas ganz Entscheidendes: Dass Desinteresse möglicherweise auch auf Armut zurückzuführen sein könnte. Auf Armut im weitesten Sinne. Ich würde es zumindest nicht ausschließen.
Denn wenn man die Eltern der heutigen Kinder im Grundschulalltag gleichmacherisch behandelt wie Delinquenten, die amöbenhaft, bildungsfeindlich und interesselos in Richtung des eigenen Biographie-Endes schlittern, übersieht man die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen 25 Jahre komplett: die wirtschaftliche, die digitale, die geschichtliche. Diese Eltern sind in den meisten Fällen bereits von den Möglichkeiten der neuen Technik überwältigt durch ein Bildungssystem gegangen, das nicht selten ein Schauplatz dilettantischer, aber zur Bedeutungsschwangerschaft aufgeblasener Reformversuche geworden war. Wo zum Beispiel plötzlich Schreiben nach Gehör hipp wurde, wo plötzlich Erlebnispädagogik vor kontemplativer Schönschreib-Stunde präferiert wurde. Das letztere nicht unbedingt etwas mit Drill oder Qual zu tun hatte, sondern lediglich der Fokussierung auf die Schreibhandlung und der allgemeinen Konzentrationsfähigkeit diente – geschenkt.
Schrieben DDR-Schüler besser? Eine Ursachenforschung
Wo aber liegen die Ursachen für die sich offensichtlich häufenden Schreib- und Leseschwierigkeiten? Wurden Legastheniker früher einfach nicht erkannt? Sind wir mittlerweile unter Umständen nur um vieles sensibilisierter für Lernschwierigkeiten? Früher hieß es im Volksmund eher brachial „Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich“, was ohne Zweifel zu kurz greift. Es ist zu begrüßen, dass man heute weiß, dass hartnäckigen Schwierigkeiten mit der Schreibung zahlreiche Ursachen zugrunde liegen können und diesen möglichst individualisiert zu begegnen sucht.
Besteht aber tatsächlich ein Fortschritt darin, das Versagen im Rechtschreiben vorwiegend zum Problem des Kindes und seiner Eltern zu erklären und durch den Hinweis auf „Legasthenie“ der Schule ein Alibi zu attestieren? Schulen aber brauchen Zeit und kein Alibi.
Schulforscher Peter May hat bereits zu Beginn der 90er Jahre in einer vergleichenden Studie Rechtschreibleistungen ostdeutscher und Hamburger Schüler für erstere signifikant bessere Ergebnisse ermittelt und daraus Zusammenhänge zwischen Unterrichtsmerkmalen und Lernerfolg abgeleitet. Gerade bei einer medial stark abgelenkten Schülerschaft seien fehlendes Bemühen um Sorgfalt und Fehlervermeidung möglicherweise besonders fehl am Platz.
May plädiert angesichts der Lernerfolge für eine vorurteilsfreie Reflexion ostdeutscher Schulerfahrung. Bestimmte Herangehensweisen erwiesen sich auch noch heute für Schreiblerner als vorteilhaft, klammere man den ideologischen Überbau der DDR-Pädagogik aus.
Zu erwägen wären z. B. das Erlernen der damals üblichen Schulausgangsschrift, die Methode des „Kommentierten Schreibens“, die Erhöhung der Zahl der Deutschstunden und eine allgemeine Anhebung der Wertschätzung schulischen Schreibens. Auch Erziehungswissenschaftlerin Prof. Renate Valtin, die bundesweit als „graue Eminenz“ in der Grundschuldidaktik gilt, sieht die damals übliche Schreiblern-Methodik positiv. DDR-Lehrer seien hervorragend in der sogenannten analytisch-synthetischen Methode ausgebildet gewesen, die bedeutete „Lesen und schreiben lernen in der korrekten Schreibweise von Beginn an“ und sich damit augenfällig vom als moderner geltenden Konzept des Schreibenlernens nach Gehör abhebt.
Der Methodenstreit der vergangenen Jahrzehnte scheint sich mittlerweile etwas gelegt zu haben, wie aus Grundschullehrer-Kreisen zu vernehmen ist. Man habe zu einem selbstbewussteren Umgang mit den unterschiedlichen Methoden gefunden. Erfolge stellten sich nahezu bei jedem richtig angewandten Weg ein. Wichtig sei vor allem ausreichend Zeit und Kontinuität innerhalb einer Schullaufbahn. Dann könne man sich in ausreichendem Maße der Schulung von Wahrnehmungs- und feinmotorischer Fähigkeit der Lerner widmen. Der Rhythmus von Legislaturperioden und damit nicht ausbleibender bildungspolitischer Umschwünge sei für schulische Belange eher hinderlich als belebend.
Ohne Zweifel gibt uns die Zukunft der Schule noch ein paar Hausaufgaben auf: Zum Beispiel die Klärung der Frage, ob man weiter gewillt sein sollte, Schreibschwäche als schicksalhaft und einfach als „Preis der Freiheit“ zu verbuchen, den man vorwiegend den Betroffenen selbst aufzubürden bereit ist.
Ansonsten deutet sich der Trend an, dass es ohne bildungspolitische Kehrtwende zukünftig noch mehr Rechtschreibversager geben wird. Aber das wäre eigentlich dähmlich.
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