KommentarEin Gutes hat die lange Zeitspanne zwischen Bundestagswahl am 24. September 2017 und einer Regierungsbildung auf Bundesebene im neuen Jahr: Durch die politische Debatte kristallisiert sich langsam heraus, welchen gesellschaftspolitischen Veränderungen wir ausgesetzt sind und gerecht werden müssen. Fast sieben Jahrzehnte nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und fast drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten spürt jeder, dass die politischen Koordinaten neu justiert werden müssen – mehr noch: Wir benötigen einen an den Verfassungsgrundsätzen ausgerichteten neuen Gesellschaftsvertrag.
Stichworte deuten an, was sich verändert hat:
- Zunehmende Individualisierung, die zu beidem führt: die freiheitlichen Möglichkeiten des Einzelnen wachsen ebenso wie seine Vereinsamung und die Vereinzelung der Interessen.
- Die Spaltung der Gesellschaft vertieft sich. Es gibt eine breite Schicht, die den Verwerfungen der Globalisierung in besonderer Weise ausgesetzt ist: das sind diejenigen, die große Probleme haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden, durch Erwerbsarbeit einen auskömmlichen Lohn zu erzielen und später eine Rente zu beziehen, von der sie im Alter leben können.
- Das Stadt-Land-Gefälle ist gekennzeichnet von innerem Verfall und strukturellem Ausbluten der kleineren Ortschaften.
- Digitalisierung ist ein für viele Menschen durchaus bedrohliches Zauberwort, weil sie nicht zu ermessen vermögen, was Digitalisierung bedeutet. Ich selbst auch nur bedingt. Klar ist: die Digitalisierung verändert das alltägliche Leben. Dennoch werden wir Menschen uns um nichts mehr als um Menschlichkeit zu bemühen haben – eine bleibende Aufgabe analoger Kommunikation.
Nun wird unsere Gesellschaft von einer Schicht bestimmt, die die Globalisierung und Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung (materiell, kulturell, ideell) erfahren, ja davon profitieren. Sie sind aber eine Minderheit (ich selbst gehöre dazu). Diese Minderheit hat noch nicht begriffen, dass der Spaltung der Gesellschaft weder eine Verheißung innewohnt noch diese sinnvolles Zusammenleben ermöglicht.
Teile der Minderheit versuchen, ihr Leben gegenüber der Mehrheit abzuschotten und sich bewusst von Regeln solidarischen Zusammenlebens zu verabschieden. Das ist der tiefe Grund dafür, warum der Versuch, eine sog. Jamaika-Koalition zu bilden, gescheitert ist.
Denn die Koalition hätte diejenigen zusammengeführt, die nicht wahrhaben wollen, dass die Hauptaufgabe der politischen Arbeit darin bestehen wird, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden – und zwar in der Weise, dass die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zusammengeführt werden. Dies wird nur gelingen über annähernd gleiche Bildungschancen und einen materiellen Ausgleich über Steuern und Abgaben. Nur so lässt sich auf Dauer Demokratie erhalten und der Rechtspopulismus bekämpfen. Denn dieser macht sich die bestehende Spaltung zunutze – aber nicht, um diese zu überwinden, sondern um weitere Keile in die Gesellschaft zu treiben, indem Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgebracht werden, und um eine neue Herrschaftsclique zu etablieren – eine, die den zur Ideologie aufgeheizten asozial-nationalistischen Egoismus für die schnöde Befriedigung eigener Interessen nutzt.
Wer also der Spaltung der Gesellschaft aktiv begegnen und gleichzeitig dem Rechtspopulismus widerstehen will, der muss für die Schichten unserer Gesellschaft neue Ziele entwickeln, die unter der Globalisierung am meisten zu leiden haben: das sind diejenigen, die derzeit ihren Lebensalltag aufgrund mangelnder Teilhabe an Einkommen, Arbeit, Wohnen nicht autonom bestimmen können. Die keine Möglichkeit haben, sich das woanders zu besorgen, was sie in ihrer Ortschaft nicht (mehr) finden. Für sie muss vor Ort das neu geregelt werden, was sie zutiefst verunsichert, empört, frustriert und empfänglich werden lässt für rechtspopulistisches Gedankengut.
Dazu gehört
Bezahlbarer Wohnraum, Arbeitsmöglichkeiten in Ortsnähe, Rekultivierung der örtlichen Infrastruktur in kleineren Ortschaften, Bekämpfung von Kriminalität und Verwahrlosung, Ausgleich von Freiheit und Sicherheit.
Dabei muss bedacht werden: Sicherheit ist – wie die Geschichte zeigt – leider ohne Freiheit möglich, aber Freiheit nicht ohne Sicherheit. Darum bedarf es in der freiheitlichen Demokratie klarer Regeln, die durchgesetzt werden müssen: in Schulen, in Betrieben und auf der Straße. Sie gehören aber auch auf den Prüfstand, müssen demokratisch kontrolliert werden. Insgesamt gilt: Wir benötigen kaum neue Gesetze, sondern vor allem ein den Menschen zugewandtes politisches, wirtschaftliches, kulturelles, demokratisches Handeln vor Ort. Noch klarer: Wir brauchen eine Vorstellung von der Machbarkeit des Visionären und Notwendigen im Kleinen.
Von ihrer Geschichte her gesehen ist die SPD die Partei, die eine solche Gesellschaftsvision entwickeln und politisch umsetzen kann. Dazu muss sie aber auf kommunaler und auf Landesebene die Bevölkerungsgruppen ansprechen, die jetzt nach neuer Partizipation suchen und verlangen. Sie muss klarmachen, dass Teilhabe nicht dadurch zu erreichen ist, andere Bevölkerungsgruppen davon auszuschließen. Vielmehr müssen die unterschiedlichen Interessen aufeinander bezogen werden.
Wenn die SPD die neuen Herausforderungen annehmen will, muss sie bei sich selbst die politische Überzeugung wachrütteln, Menschen Teilhabe zu ermöglichen und diese Politik einzubetten in eine europäische, weltpolitische Friedensvision. Über diesen Weg kann es der SPD auch gelingen, als Volkspartei zu wirken – die unterschiedlichen Gruppen und Schichten zusammenzuführen.
Allerdings ist das nicht mit dem zu erreichen, was der ehemalige Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, nunmehr seiner Partei anempfiehlt: Begriffe programmatisch zu übernehmen, die aus dem Arsenal der Rechtspopulisten stammen. Modewörter wie „Heimat“ oder „Leitkultur“ dienen nur dazu, Menschen auszugrenzen (Ihr gehört nicht dazu!). Sie stärken aber nicht das Selbstbewusstsein derer, die sich benachteiligt fühlen.
Natürlich benötigt jeder Mensch ein Zuhause
Eine innere Mitte, einen Ort, an dem er sich innerlich und äußerlich sicher fühlt. Natürlich trägt eine Gesellschaft dafür Verantwortung, Bedingungen zu schaffen, die das ermöglichen. Das aber gilt für den Geflüchteten genauso wie für den Deutschen, für die Christin genauso wie für die Muslima. Dies kann nicht von oben verordnet werden. Es muss sich speisen aus den religiösen, weltanschaulichen, kulturellen Wurzeln einer Gesellschaft; es muss wachsen und sich im pluralen Zusammenleben bewähren. Wenn wir allerdings die Frage, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, von den materiellen Bedingungen des Zusammenlebens loslösen, dann wird jede Art von „Leitkultur“ zur Ideologie – zur klebrigen Soße, die über Ungerechtigkeiten, Unvermögen und Verwerfungen gegossen wird.
Genauso untauglich ist auch ein anderer Hinweis von Sigmar Gabriel, die SPD aus der Sackgasse zu führen: „Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit, und die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht.“ Allein den Klimaschutz, ein existentielles Menschheitsthema, auf eine Ebene zu stellen mit der „Ehe für alle“, zeigt, dass es Gabriel nicht um Erneuerung, sondern um veraltete Alternativen geht. Die SPD muss aber endlich den sich schon vor Jahrzehnten fatal auswirkenden Fehler vermeiden, globale Themen wie Klimaschutz oder Rüstungsproduktion gegen Arbeitsplätze auszuspielen.
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie 1982 die Gewerkschaften zu einer Großkundgebung mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ins Gelsenkirchener Parkstadion aufriefen, um für die Atomenergie zu werben. Was ist daraus geworden? 16 Jahre Opposition und ein andauernder Glaubwürdigkeitsverlust. Was wird aus der SPD, wenn sie jetzt nicht ganz entschlossen das Ende der Energiegewinnung aus Kohle und Braunkohle proklamiert und gleichzeitig ein Programm auflegt, wie dieser Ausstieg arbeitnehmerorientiert gestalten werden kann?
Die Menschen in Jülich, in der Oberlausitz, im Südraum Leipzigs brauchen keine sozialdemokratische Beruhigungsrhetorik, sondern Klarheit und ein glaubwürdiges Angebot für Arbeit und Sicherheit in ihrer Region.
Was das für die Regierungsbildung bedeutet?
Eine neue Regierung benötigt eine neue Gesellschaftsvision – nicht Rückkehr zu einem heimeligen Deutschland, das es nie gab. Eine neue Regierung muss gleichberechtigte Teilhabe der Menschen ermöglichen und dadurch die Demokratie stärken. Eine neue Regierung braucht neue Gesichter – so wie in der Weihnachtsgeschichte die Karten weltpolitisch neu gemischt wurden. Neue, unbekannte Menschen wurden zu Akteuren und ermöglichten vielen anderen Menschen neue Teilhabe am Leben. Wodurch? Durch Orientierung an dem Dreiklang: Gott die Ehre, der Erde Frieden, den Menschen Gerechtigkeit.
Möge die Weihnachtszeit auch zu mehr politischer Klarheit führen.
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Danke Herr Wolf vor allem für den Hinweis, dass man auf keinen Fall wieder Klimaschutz und Rüstungsproduktion gegen Arbeitsplätze aufrechnen sollte.