Da habe ich aber was angestellt. Ich habe in Zusammenhang mit Veganismus das Wรถrtchen radikal verwendet, habe von โlukullischem Radikalismusโ geschrieben und einen kleinen Streit ausgelรถst รผber den โnegativ konnotierten Begriff โradikalโ in Verbindung mit dem Veganismus! (so schrieb โVolkerโ). Da war ich aber baff. Ja, so geht das, wenn Worte fortwรคhrend falsch gebraucht werden. Ich zweifle wirklich so langsam an unserem Bildungssystem.
Es wird ja jede Menge รผber Medienkompetenz geredet. Aber wenn man genau hinschaut, geht es um simple Grundlagen wie Lesekompetenz, Wortkompetenz sogar, Sprachfรคhigkeit. Oft ist ja auch vom arg reduzierten Wortschatz heutiger Zeitgenossen die Rede. Und dazu kommt noch das politische Framing, das oft genug Unheilvolles mit unseren Worten anstellt.
Zum Beispiel den Eindruck erzeugt, dass das Wort โradikalโ negativ konnotiert sei. Wobei ich schon bei โkonnotiertโ stutzig werde, denn meist wird dieses Wort nun so verwendet, als sei die konnotierte Bedeutung nun auf einmal die einzige und dominierende. Obwohl es tatsรคchlich bedeutet, dass ein Wort auch noch eine Nebenbedeutung hat. Oder mehrere.
Beim Wort radikal sind es sogar mehrere. Da muss ich nicht mal Wikipedia aufschlagen, um eine ganze Wortwolke im Kopf zu haben, denn das Wort tauchte bei mir im Mathematikunterricht genauso auf wie im Chemieunterricht. Latein hatte ich leider nicht. Aber einer meiner Biologielehrer hatte es noch, deswegen tauchte radikal auch im Biologieunterricht auf, als es um das Thema Wurzelgemรผse ging.
Denn lateinisch heiรt Wurzel nun einmal Radix. Und deshalb heiรen unsere Radieschen Radieschen und der Rettich Rettich.
Aber es gibt auch noch andere Radikale in der Biologie: nรคmlich Stoffe, die Zellschรคden verursachen.
Aber das wรผrde jetzt zu weit fรผhren. Denn der ganze Quatsch war schon in den 1970er Jahren seltsam, als eine ganze bundesdeutsche Gesellschaft begann, das Wort zu belasten (und zu missbrauchen).
Was รผbrigens auch Googles kleines Werkzeug Ngram bestรคtigt.
Die erste Suche mit den Stichworten radikal, linksradikal und rechtsradikal zeigt: Das Wort radikal taucht genau da auf, wo es historisch auftauchen muss โ um 1800, als es zuerst von Chemikern (Lavoisier, Wรถhler, Laurent) verwendet wurde und die chemischem Radikale Eingang fanden zuerst in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch โ und erst spรคt auch in den gesellschaftlichen und politischen. Wer sich die Kurve anschaut, wird feststellen, dass die Inflation des Wortes radikal fast punktgenau im Jahr 1878 einsetzt.
Das ist das Jahr, in dem Bismarck sein Sozialistengesetz โgegen die Umtriebe der Sozialdemokratieโ durchpeitschte. Das war auch der Zeitpunkt, an dem in der politischen Diskussion in Deutschland begonnen wurde, politische Bewegungen, die vom regierungsamtlich Opportunen abwichen, als radikal zu bezeichnen und zu bekรคmpfen. Und zu verteufeln: Wer Grundlegendes in einer bรผrgerlich-konservativen Gesellschaft verรคndern will, der wird bekรคmpft und verboten.
Genau das, was 1972 auch wieder passierte. Da hieร das Ding dann nicht Sozialistengesetz, sondern schon โRadikalenerlassโ. Vorhergegangen waren dem 1968 die sogenannten โNotstandsgesetzeโ, die โ wie man an der Verlaufskurve sieht โ die Diskussion um โLinksradikalismusโ erst so richtig befeuerten. Sage keiner, dass der westdeutsche Staat auf die Unruhen und Proteste der Sechzigerjahre nicht selbst radikal reagierte. Eine Radikalitรคt, die durchaus die Frage erlaubt: Hรคtte man mit einer anderen Politik die RAF verhindern kรถnnen?
Zumindest eins hat man damit geschafft: Im Westen eine Atmosphรคre des bleiernen Schweigens zu erzeugen. Und ein sehr seltsames Bild von Radikalitรคt. Denn wer sich auch nur ein bisschen mit Gruppendynamik beschรคftigt, weiร, dass Gruppen, die radikal ausgegrenzt werden, sich auch weiter radikalisieren.
Stichwort: Eskalation.
Aber selbst bei der Polizei hat man augenscheinlich diese Grundkurse alle eingespart. Was wohl auch mit diesen seit den โNotstandsgesetzenโ deutlich verรคnderten Wahrnehmungen des Wortes radikal zu tun hat.
Radikale sind irgendwie schon jenseits allen Rechts, irgendwelche Zerstรถrer, wahrscheinlich schon Terroristen, Fanatiker und Fundamentalisten. Extremisten. Unsere politischen Groรkรถpfe haben sich ja, nachdem sie das Wort radikal schon in einen politischen Kampfbegriff verwandelt haben, auch noch die Wortbombe Extremismus zugelegt. Immer geht es dabei um eine Fiktion der friedlichen, ausgeglichenen und braven Mitte. Dass die Mitte selbst in mancher Beziehung zerstรถrerisch ist, haben wir an anderer Stelle schon mehrfach besprochen. Aber es ist keine ausgesprochene Zerstรถrungswut, sondern eine stillschweigende. Motto: Ich zรผnde ja keine Autos an, ich fahre nur Auto.
Und รผber die Umweltzerstรถrung durch die heutigen Automassen haben wir auch schon genug geschrieben. Es ist dieses flaue โWas kann ich denn tun? โฆ und die Chinesen โฆ und die Amerikaner โฆ und โฆโ
Das Grundproblem dieses gut versorgten Mitte-Menschen ist: Er mรถchte nicht radikal sein. Womit ich gar nicht das politisch derart aufmunitionierte โradikalโ meine, das mir auch mein Wรถrterbuch empfiehlt: โextreme Anschauungโ, โrรผcksichtslosโ (man sieht, das Framing der Hardliner aus den 1960er Jahren hat sich auch bis ins Wรถrterbuch durchgefressen), sondern radikal in seiner ganz ursprรผnglichen Bedeutung: bis auf die Wurzel gehen, den Dingen wirklich auf den Grund gehen, Dinge konsequent tun (das Wort konsequent bietet mir mein Wรถrterbuch nicht mal an, da merkt man erst, wie sehr der รถffentliche Wort-Missbrauch auch Wรถrterbuch-Autoren verblรถdet).
Eben genau das, was Veganer tun. Sie ernรคhren sich konsequent auf eine Weise, in der keine Tiere in irgendeiner Form auf den Tisch kommen.
Denn glรผcklicherweise ist Menschen auch die Fรคhigkeit gegeben, Dinge konsequent zu Ende zu denken. Bis auf die Wurzel. Radikal. Was eben nicht immer in die Sackgasse fรผhrt. Das ist ein Trugschluss. Aber der Trugschluss ist gewollt, weil der Bursche da in der Mitte, dieser laue Ich-denke-nicht-mehr-also-bin-ich, gar nicht daran erinnert werden mรถchte, was fรผr eine Belastung er fรผr die Welt ist und wie er sie mit seiner Denkfaulheit und Bequemlichkeit zerstรถrt. Deswegen arten Diskussionen รผber Ernรคhrung, Konsum, Mobilitรคt usw. immer gleich in regelrechte Tortenschlachten aus: Der Bursche fรผhlt sich jedes Mal sofort angegriffen.
Er fรผhlt sich bevormundet. Genรถtigt, รผber seine Lebensweise nachzudenken.
Je mehr man die Diskussion mit Fakten und Argumenten untermauert, umso schriller wird der Ton.
Er will gar nicht hรถren, dass seine Lebensweise, radikal bis zum Grund gedacht, die Ressourcen unseres Planeten zerstรถrt. Also letztlich radikaler ist als alles, was Grรผne, Linke und andere Unruhegeister an Vorschlรคgen machen. Denn radikaler kann man gar nicht handeln, als unsere Lebensgrundlagen zu zerstรถren.
Das ist wirklich negative Radikalitรคt.
An der man verzweifelt, wenn man weiร, dass es รผberhaupt keinen Verzicht bedeutet, wenn man im positiven Sinne radikal handelt: bei der Ernรคhrung, bei der Mobilitรคt, beim Urlaub, beim Konsum usw.
Radikalismus ist an sich vรถllig wertfrei. Es heiรt immer neu: konsequent sein. Und im besten Fall: bis an die Wurzeln gehen, die Dinge grรผndlich zu Ende denken. Oder: zurรผck zu den Wurzeln.
Was unsere Nachfahren sowieso machen mรผssen, wenn es die jetzt lebende Generation von radikalen Dummkรถpfen geschafft hat, die Lebensgrundlagen dieser Zivilisation zu zerstรถren. Dann mรผssen (wenn es dann รผberhaupt noch welche gibt) die kรผnftigen Menschen ganz von vorn anfangen. Bei den Wurzeln โ die sie dann wahrscheinlich wieder sammeln mรผssen im Wald. Den es hoffentlich noch gibt.
Die ganze Serie โNachdenken รผber โฆโ
Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
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Ja genau, so ist das. Wenn ich heute mit dem Wort โradikalโ konfrontiert werde, kommt mir zuallererst dieser unsรคgliche โRadikalenerlassโ in den Sinn. Bin halt ein Kind jener Zeiten. Der Artikel ist gut โ vielen Dank! Beschreibt er doch anschaulich wie aus harmlosen Sachwรถrtern regelrechte Angstwรถrter werden kรถnnen. Anzumerken wรคre noch, dass โ unter vielen anderen โ auch mit dem Begriff โanarchistischโ genรผgend Schindluder getrieben worden ist.