Der wirklich einfältige Änderungsantrag der Leipziger CDU-Fraktion zum Linken-Antrag, 2018 auch Karl Marx in Leipzig zu würdigen, hat nicht nur sichtbar gemacht, wie schlecht die Fraktion in Geschichte bewandert ist. Er hat auch noch etwas anderes gezeigt, was den Grundkonsens der heutigen CDU ausmacht. Denn ihre Geschichtslosigkeit paart sich mit einer Verachtung für gesellschaftliche Träume.
Es sind gesellschaftliche Träume. Denn Marx die „Millionen Toten des Stalinismus“ (Michael Weickert) anzulasten, das grenzt nicht nur an Geschichtsverfälschung, das ist eine. Dumm nur, dass sich der ganze Stadtrat so hat an der Nase herumführen lassen und aus der SPD nicht mal ein hörbares Dementi kam. Denn es war die junge SPD, die sich einst auf Marx berief. Mit Wilhelm Liebknecht war Marx befreundet – dessen Sohn Lutz Weickert kraft seiner Wassersuppe einfach mal zu einer „fragwürdigen“ Persönlichkeit erklärte: just jenen Karl Liebknecht, der anfangs der einzige Abgeordnete mit Rückgrat im Reichstag war, der sich gegen die Kriegskredite aussprach.
Aber das war ja bekanntlich schon ein Zeitpunkt, als die SPD, in deren Bildungskursen Arbeiter lernten, „Das Kapital“ zu lesen, eingeknickt war, sich dem gebeugt hatte, was einige Leute gern Realpolitik nennen. Sie hat mit ihrer Bewilligung der Kredite, die den Start des 1. Weltkrieges ermöglichten, nicht nur ihre Unschuld verloren, sondern auch ihre Träume. Wer Marx zum Terroristen stempelt, hat ihn wirklich nicht gelesen. Der hat auch nie das utopische Moment begriffen, das diesen Wortberserker für so viele Menschen im 19. Jahrhundert lesbar machte. Denn sein Traum war bis 1914 auch der große Traum der deutschen Sozialdemokratie: eine andere, gerechtere Gesellschaftsordnung.
Aber wie gesagt: Damals lasen Sozialdemokraten noch
Nicht nur die Schriften des Dr. Marx. Die Bebelsche Sozialdemokratie war vor allem eine Bildungsbewegung. Auch fast schon vergessen: Die Sozis organisierten Bildungskurse, bei denen sie ihren Proletariern auch Kultur nahebrachten. Sie organisierten Theater- und Konzertbesuche. Und sie stellten ihren Mitgliedern die Weltliteratur vor. Und zwar in der tiefen Überzeugung, dass eine neue Gesellschaft gebildete Menschen brauchte. Und Menschen, die bereit waren, für ihre Träume zu kämpfen.
Wie weit verbreitet der Wunsch nach einer menschlicheren Gesellschaft im 19. Jahrhundert war, zeigen die vielen Aufstände und Revolutionen, die immer wieder aufflackerten. Und es zeigt auch der Erfolg jener Schriftsteller, die sich daranmachten, über die Armut und den rebellischen Geist der Menschen im Abgrund zu schreiben. Einer der größten Erfolge dieser Art war der Roman „Die Elenden“ („Les Misérables“, 1862) von Victor Hugo, mittlerweile über 50 Mal verfilmt, seit 1980 als Musical erfolgreich immer wieder aufgelegt. Ein Publikumsmagnet, der nicht nur funktioniert, weil es ein gut gemachtes Musical ist, sondern weil es komprimiert zeigt, was auch schon Hugos Roman zum Erfolg gemacht hat: Dass Menschen für ihre Träume von einer besseren Welt bereit sind, auf die Barrikaden zu gehen, die Dinge gemeinsam anzupacken.
Wer so etwas träumt, wird heute natürlich vom Verfassungsschutz beobachtet
Der fängt dann an, herumzudrucksen und um den heißen Brei zu reden. Wir leben in gezähmten Zeiten, in denen nicht mal mehr öffentlich darüber nachgedacht wird, wie sich unsere Gesellschaft ändern müsste, damit sie das wird, was Martin Schulz (SPD) in seinem Wahlkampf gefordert hat: gerechter.
Man stellt Gerechtigkeit nicht darüber her, dass man ein bisschen mehr Kindergeld gibt und ein paar Steuern senkt. Das sind alles Ja-nichts-ändern-Reförmchen, phantasielos, mutlos, entmutigend. Da steckt keine Zukunft drin, kein „Jetzt packen wir es gemeinsam an“. Man will ja den erregten Bürger daheim vorm Fernseher nicht erschrecken. Oder ihm gar zumuten, dass er sich ändern soll. Diesen so umworbenen Wähler des Stillstands, der den Besitz eines Autos für Flexibilität hält.
Das Problem dieses welterschrockenen Kaninchens ist …
Es hat Angst vor anderen Menschen. Und vor Gefühlen. Deswegen ist dieses Kaninchen so latent menschenfeindlich und rassistisch. Und liebt Zäune, Mauern, Überwachung und Grenzkontrollen. Es will nicht mit der Welt konfrontiert werden oder gar mit den schäbigen Folgen seines Tuns. Und es reagiert mit hochrotem Kopf, wenn auch nur der Name Marx fällt. Den hält es, wie wir nun erfahren durften, für einen schlimmen Terroristen.
Man staunt immer wieder, welche Wirkung ein paar Worte haben können, die schon 1848 eine Fiktion waren: „Ein Gespenst geht um in Europa …“
Das Gespenst existiert bis heute nur im Kopf des Kaninchens. Das keine Träume mehr hat, nur noch Alpträume. Auch Pläne sind nicht mehr wichtig, Freunde eigentlich auch nicht. Leute, mit denen es sich zusammentun würde, um gemeinsam vielleicht nicht die Welt umzustürzen, aber ein paar Dinge endlich zum Besseren zu wenden, schwinden in der Angst.
Mutig sein für eine gemeinsame Idee. So, wie es am Höhepunkt von „Les Misérables“ passiert, wo die Pariser sich versammeln zum Juliaufstand. Das war 1832, die Revolution lag gerade zwei Jahre zurück, seitdem regierte König Louis Philipp, den der Zeichner Charles Philipon als Birne zeichnete. Eigentlich hatte der König sich der Republik verpflichtet, aber seine Regierung nahm schon die ersten illiberalen Züge an. Womit er die Republikaner auf die Barrikaden brachte. Wenn es um ihre Republik ging, waren die Franzosen rigoros. Der Aufstand wurde niedergeschlagen.
Aber
Der Erfolg von Hugos Geschichte bis heute zeigt, dass dieser Traum, die Gesellschaft gemeinsam zu verbessern, bis heute lebendig ist. Wenn auch verschüttet, verachtet, ins Gespensterkabinett gesperrt.
Mal so gesagt: Die AfD ist der Preis für diese Traumlosigkeit. Wenn sich eine Gesellschaft so konsequent das Denken über eine bessere Zukunft verbietet, kommen tatsächlich die echten Gespenster ans Tageslicht, feiern fröhliche Urständ, wie es so schön heißt, und preisen die mottenzerfledderten Ideen von anno Bismarck oder Mauerbauer Ulbricht als Lebenselixier für das Land.
Das Ergebnis ist eine ziemlich jämmerliche Sehnsucht zurück in verklärte Zeiten. Typisch deutsch, könnte man sagen. Die Zukunft liegt in den Köpfen dieser verschreckten Kaninchen immer 100 Jahre zurück.
Veränderung kann dieses „Mitte“-Wesen sich nur als Verlust vorstellen. Da will ihm jemand was wegnehmen. Denn es definiert sich nur übers Haben, nicht übers Lebendigsein. Und natürlich kommt es bei der Wahl aller Wahlen genau auf so einen Kaninchenspruch:
„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“
So ein richtig satter Werbespruch aus der Fernsehwerbung der 1960er Jahre, passend zu Versicherungen, Bausparverträgen und Zahnersatz-Extrasparen. Ein Merkelspruch, für den allein sie schon vor Jahren in die Wüste gehört hätte.
Dass ein Bedarf an Träumen und Visionen existiert, das wurde schon im Wahlkampf von Bernie Sanders sichtbar. Auch er wurde gebremst, verlor gegen eine chancenlose Clinton-Dynastie-Vertreterin der Demokraten im Vorwahlkampf. Knapp. Mittels Beschiss.
Augenblicklich aber holen die dadurch übriggebliebenen Populisten all die verunsicherten Bürger ab, die das dumme Gefühl haben, dass die Dinge nicht richtig laufen. Dass ihr Leben irgendwie kein Ziel hat und sie die ganze Zeit nicht von der Stelle kommen. Ein Gefühl, das man missbrauchen und in die Irre leiten kann. Erst recht, wenn eine ganze Gesellschaft sich so grimmig in jeder Verweigerung eines Zukunftsdenkens übt und das lieber den Technokraten aus dem Silicon Valley überlässt.
Vielleicht doch mal wieder Victor Hugo lesen und sich ein bisschen daran erinnern, wovon Menschen eigentlich träumen im Leben. Und was sie zur Verzweiflung bringt. Und ab und an Glocken läuten – auch wenn man darüber taub wird.
Und für die Kaninchen unter uns haben wir extra ein Bild gewählt, das zeigt, dass es dabei nicht nur um Republiken geht und so hohe Worte wie Gerechtigkeit. Mittlerweile geht es auch um so simple Dinge wie Insekten und artenreiche Wiesen. Glücklich, wer ein Stückchen Land besitzt, auf dem er bunte Vielfalt säen kann.
Die Kaninchenpolitik macht unsere Welt kaputt. Musste jetzt einfach mal gesagt werden.
Die ganze Serie „Nachdenken über …“
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