Ich komme gerade aus einer Filiale der Drogeriekette, die so heißt wie ein berühmter Fußballer der Nationalmannschaft oder wie zwei Millionen andere Deutsche auch. Dort jedenfalls stapelten sich förmlich die Menschen in der Halloween-Artikel-Abteilung, die zur Stunde vielleicht nicht restlos leer gekauft war, aber doch schon anständig geplündert. Nur noch ein paar Strumpfhosen mit Skelett-Aufdruck, ein, zwei Vampirgebisse und ein Haarreif aus roten Rosen, aus denen ein kleiner Totenschädel hervorlugte, waren noch zu haben. Nur um es vorweg zu sagen: Ich verstehe, dass Kinder auf jedes Kostümfest abfahren, das sich ihnen bietet. Logo.
Logisch auch, dass ihnen dieser entfesselte Mummenschanz besser gefällt als ein paar abstrakte Geschichten, die sich um einen alten dicken Mann in einem anachronistischen Kittel ranken, der irgendwas für sie absolut Fünftrangiges an eine Kirchentür gerammelt haben soll. Das ist allzu verständlich. Luther ist kein Kinder-Held. Er versuchte, Erwachsenen-Probleme zu lösen, die diese sich in ihrem verqueren Denken selbst eingebrockt hatten. Ich verstehe die Kinder in dieser Hinsicht sehr.
Aber eines ist ja wohl auch klar: Dass man weder in Thüringen noch in Sachsen (und schon gar nicht in Sachsen-Anhalt) eine Umfrage unter Erwachsenen startete, was ihnen der Reformationstag und in diesem Jahr natürlich auch das Reformationsjubiläum bedeute. Ich will das gar nicht tadeln oder werten. Der Lauf der Dinge ist eben so. Selbst die klügsten Köpfe der hiesigen evangelischen Kirche sehen die Bemühungen des sicherlich in bester Absicht aufgeblasenen Reformationsfestes 2017 in ihrem grandiosen Memorandum „Reformation in der Krise. Wider die Selbsttäuschung“ als im Grunde gescheitert an.
Das Memorandum selbst allerdings ist alles andere als gescheitert zu nennen, es ist allenfalls gescheit. Und das sehr. Es liest sich hervorragend, frisch und sendet überdies ein Licht. Ein Licht, das die Gesellschaft dringend zu benötigen scheint. Denn irgendwas scheint irrig, vor allem angesichts des politischen und gesellschaftlichen Rechtsrucks, der nicht selten nach der Bewahrung unserer Traditionen und Wurzeln ruft und den bereits als kümmerlich zu betrachtenden Rest an kulturellen, religiösen Säulen gegen den Islam zu verteidigen sucht.
Auch auf diese Fragen gehen Schorlemmer und Wolff ein und analysieren darin seitens der Kirche in ungewohnt erscheinender selbstkritischer Manier den Niedergang kirchlichen Einflusses auf die Menschen im Lande.
Und sie benennen die Dinge, die vielen Menschen ganz offensichtlich in ihrem Leben – trotz aller Modernität, trotz allen Selbstbewusstseins, trotz aller Technikaffinität, trotz aller oberflächlichen „Vernetzung“ fehlen: Menschennähe, die verlässlich ist und uns die Welt nicht ständig wie Reiner Calmund auf den Schultern sitzen lässt, Selbstvertrauen und Demut in Ausgewogenheit sowie das wesentliche Gefühl, dass wir unser Sein nicht begründen, uns „vor niemandem rechtfertigen“ müssen, dass wir leben.
Diese grundlegenden Selbstverständlichkeiten sind natürlich leicht ausgesprochen. Ebenso leicht zu vermitteln sind sie nicht. Demut kann man nicht predigen. Man muss sie fühlen. Fühlen lernen. Das Fühlen wieder lernen.
Ich habe deshalb einen Vorschlag für den Reformationstag morgen.
Es ist nur ein Vorschlag. Nichts weiter.
Fahren wir nicht nach Wittenberg. Das ist gar nicht nötig. Obwohl man das natürlich auch könnte, um sich dort im wunderbaren Asisi-Panometer in die Alltagswelt der Reformationszeit versetzen zu lassen.
Aber wir haben in Leipzig zur Stunde ja auch noch ein wichtiges! Das hiesige Panorama nimmt sich des uralt erscheinenden Faszinosums: „Titanic – Die Versprechen der Moderne“ an, indem es seinen Besuchern die Möglichkeit bietet, in die Tiefe des Ozeans zum Wrack des untergegangen Luxusliners „abzutauchen“.
Aber darum geht es gar nicht so sehr. Vielmehr thematisiert Yadegar Asisi den berühmten gesunkenen Dampfer als Beispiel für unseren heute mehr denn je ausgeprägten Fortschrittsglauben und unsere fast zwangsläufig damit einhergehende Überheblichkeit gegenüber den Gewalten der Natur.
Asisi stellt dabei die bewundernswerte Ingenieursleistung des Luxusliners gar nicht infrage, aber es gelingt ihm, in einem für uns ungewohnt räumlichen Aspekt die uns seit Menschengedenken beschäftigende Frage nach der Beherrschung der Natur anzusprechen. „Raum kann man, wenn wir stillstehen, inhalieren“, sagt der Künstler und er hat Recht damit.
Das Panorama und die Ausstellung zur Titanic zu erleben, ist nichts anderes als gefühlte Demut. Und das alles macht sogar Spaß. Kunst zu erleben heißt also auch, Kirche zu verstehen. Oder umgekehrt? Und Kindlichkeit zu bewahren. Im positivsten Sinne.
Da waren sie wieder die drei Ks: Kunst, Kirche, Kindlichkeit.
Wenn dahin die Frauen zurück sollen, bin ich gern dabei.
Und wo Frauen sind, lassen Männer meist nicht lange auf sich warten. Gehen wir es an!
PS: Schönen Reformationstag allerseits, der eine Halloween-Party übrigens durchaus verkraftet.
Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
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