LZ/Ausgabe 47Es dreht sich etwas in Leipzigs Kirchgemeinden, teils dramatisch, aber kaum bemerkt von der Öffentlichkeit. Unmerklich, aber unaufhaltsam sinken die Zahlen der Gemeindemitglieder. Veränderte Aufgaben in der Zivilgesellschaft und eine große Strukturreform der Sächsischen Landeskirche zwingen so zum Umdenken in der christlichen Glaubenslandschaft Leipzigs. Einer der Vordenker dieser Entwicklungen ist Andreas Dohrn, Gemeindepfarrer der Peterskirchgemeine Leipzig.
Für manchen Atheisten ist der Verkleinerungsprozess kirchlicher Gemeinden offenbar Grund zu einer hämischen Begleitung. Dabei wird zu oft übersehen, dass viele Gemeinden längst eine Art „postmodernes Verständnis“ für ihre Arbeit entwickelt haben und in der Stadtgesellschaft weit mehr leisten, als den einfachen Kirchendienst.
Ob Flüchtlingsintegration, neue Wohnprojekte, der Betrieb von Kindergärten und die Friedhofssorge – das Feld ist breit und ragt mitten hinein in die Stadtgesellschaft. Denn wo mancher vielleicht gerade noch sakralen Tourismus vermutet, werden Projekte geplant, Konzerte angeboten, Initiativen gestartet und Leipzig aktiv mitgestaltet.
Die Kirchgemeinde St. Petri rings um den imposanten Bau der Peterskirche an der Riemannstraße ist in den vergangenen Jahren mit Pfarrer Andreas Dohrn zu einem echten Fixpunkt für soziales Engagement und neue Initiativen geworden. Im Gespräch mit dem ruhelosen Kirchenmann geht es um die Folgen der Insolvenz des Flüchtlingsrates, aggressiven Atheismus, die geplante Strukturreform der Sächsischen Landeskirche und die Suche nach neuen Wegen in Leipzigs Kirchgemeinden und Macher in ihren Reihen. Marko Hofmann sprach mit ihm.
Herr Pfarrer Dohrn, ist Leipzig eine Hochburg des Atheismus?
Das ist so. Alle Weltreligionen und alle Konfessionen separat betrachtet, ist man in Leipzig unter 20 Prozent Mitgliedern. Im Jahr 2013 gab es bezogen auf 540.000 Einwohner circa 63.700 Evangelische Christen und circa 23.500 Katholiken. Und das führt zu unklugen Debatten, die teilweise auch unsachlich sind. Denn: Die gesellschaftliche Wirkung dieser Gruppen und Institutionen liegt eher bei 30 bis 40 Prozent.
Das ist den Entwicklungen von ‘89 zu verdanken: Damals waren Pfarrer wesentliche Aktivposten, aber auch die weltweite Bedeutung von Nikolai- und Thomaskirche trägt dazu bei.
Welche Arbeitsfelder und -probleme ergeben sich dadurch für Pfarrer in Leipzig?
Bei einem Großstadtpfarramt gibt es im Gegensatz zu einem Kleinstadt- oder Dorfpfarramt keine konkreten Rollenerwartungen an einen Pfarrer. Man kann hier viel tun und lassen, ohne dass man Anstoß erregt, aber auch Wirkung entfaltet. Das ist einerseits schön, andererseits bitter. Natürlich gibt es in Leipzig auch unterschiedliche Arten von Pfarrämtern: Thomas, Nikolai in der Stadt. Als Ring darum Schleußig, Peters und Co., umringt von einer weiteren Gruppe typischer Großstadtpfarreien gefolgt von Randbezirken. Das bringt natürlich unterschiedliche Anforderungen mit sich.
Für mich gilt die alte Regel: Wenn der Atheismus kommt, musst du kirchliches Gegenpressing spielen. Ich wurde im Bürgeramt mal der Lüge bezichtigt und habe mich anschließend als Pfarrer zu erkennen gegeben. Die Folge war ein aggressiver Atheismus, dem ich schwungvoll entgegentrat. Ich verstehe da die Überheblichkeit der Menschen nicht, denn statistisch gesehen, ist die Chance, dass nach dem Tod was Christliches passiert genauso hoch wie nicht.
Da würde ich nicht so überheblich auf den Platz gehen. In einer Kleinstadt wäre das Thema abgehakt gewesen, spätestens wenn ich gesagt hätte, dass ich hier der neue Pfarrer bin. Durch den Druck auf Kirchgemeinden, der auch durch die Stabilität des Atheismus entsteht, gibt es für die strategische Orientierung von Kirchgemeinden in Leipzig mehrere Verhaltensoptionen. Die Kirchgemeinde konzentriert sich ausschließlich auf Gottesdienst und Seelsorge oder die Kirchgemeinde geht Richtung thematische Champions League, City-Kirche, wie es Nikolai und Thomas tun.
Oder die Kirchgemeinde will eine innovative Mischung aus klassischen gemeindlichen Angeboten und gleichzeitig Teil thematischer Netzwerke werden so wie beim Südcafé und der Kontaktstelle Wohnen im Gemeindegebiet von Peters und Bethlehem. Also man will ganz bewusst kirchgemeindliche Grenzen überschreiten und Themen wie Wohnen entdecken.
Viertens, wie bei Andreas und Nathanael: Das Allianz-Vertreter-Prinzip „Wer hier wohnt, gehört automatisch dazu“ auflösen und sich spezifizieren. In diesem Fall auf die charismatisch-pietätische Richtung. Menschen aus anderen Gebieten kommen dazu, die, denen es nicht gefällt, lassen sich umpfarren. Das ist Teil des Spiels. Fünftens: Wir machen was lutherisch-hochkirchlich. Diese Gemeinden versuchen über Luther 2.0 eine lutherische Kirchgemeinde-Arbeit aufzubauen.
Das klingt ziemlich durcheinander oder ist es einfach ein Abbild der vielen verschiedenen Wegmöglichkeiten?
Genau. Bei der Auswertung des Kirchentags saßen alle Leipziger Kirchenakteure in einem Raum und ich dachte mir dann: Oh es wird dünne, wenn es jetzt darum gehen sollte, mal unseren gemeinsamen roten Faden zu erklären. Dazu kommt, dass es mittlerweile einige außerkirchliche Akteure gibt, die an Kirche dranhängen. Die großen Systeme lösen sich auf, wie es in der Psychologie schon vor 30 Jahren angekündigt war und jeder muss sehen wo er bleibt. Das wird die große Herausforderung für die Kirchgemeinden.
Denn jede Kirchgemeinde, also der Kirchvorstand, hat bei Friedhöfen und Kindergärten eine riesige Aufgabe, dazu kommen die Kirchgebäude, Trauung, Gottesdienste, Taufen, natürlich Ostern, Weihnachten, Pfingsten und inzwischen auch der Umgang mit Effekten auf dem Wohnungsmarkt.
Da wird wenig Zeit bleiben, seinen neuen Platz in der Gesellschaft selbständig zu definieren. Nehmen wir nur mal das Beispiel Bethlehemkirchgemeinde. Die hatte bis Mitte der 80er Jahre einen Arbeiteranteil von 50 Prozent und zuletzt bei der letzten soziologischen Erhebung einen Akademikeranteil von 75 Prozent.
Wie geht man damit um? Die Frage muss sich die Gemeinde stellen. Aber ist das nicht zu viel verlangt? Immerhin will die Sächsische Landeskirche auch noch die Strukturen reformieren.
Die Sächsische Landeskirche sagt: Der Gemeindegliederschwund könnte sich von 727.000 Gemeindegliedern aktuell auf 420.000 im Jahre 2040 entwickeln. Wie kann eine Kirchgemeinde auf diese Schrumpfung reagieren?
Die Landeskirche möchte gern, dass wir uns in den großen Städten zu Strukturen á 6.000 Gemeindegliedern zusammenschließen. Im Herbst 2017/Frühjahr 2018 wird das in rechtliche Grundlagen gegossen. Die Frage ist: Welche neuen Spielregeln wird es für Schwesterkirchverhältnisse und Kirchspiele geben?
Diese Umstrukturierung kommt neben dem normalen Geschäft eines ehrenamtlich geführten Kirchenvorstands noch dazu. Es gibt demzufolge von den 44 Kirchgemeinden in Leipzig keine zehn, die noch Zeit und Kraft haben, ein neues Kirchenbild entwickeln können. Stattdessen begeben sich viele in eine passive Rolle: „Wir können das gar nicht leisten“, und ziehen uns zurück oder werden selbstbezogener und meinen: „Daran beteiligen wir uns nicht.“
Und manche warten ab. Das heißt: Für die Gestaltung der Prozesse hat man zu wenige Akteure, die die Aktionen prägen können, also werden die Akteure geprägt. Und die Kirchenvorstände blockieren sich zum Teil gegenseitig, weil sich diese Reaktionen auch innerhalb der Gremien zeigen.
Ich glaube auch, dass viele der Kirchgemeinden völlig die Struktur Kirchspiele unterschätzen. Da wird es viele Domino-Effekte geben: Du kriegst eine reiche Schwester und kannst plötzlich Gebäude sanieren, die du nie sanieren konntest oder du warst eine handlungsfähige Gemeinde mit Überschüssen und plötzlich sind die weg.
Verwaltungsabläufe werden sich auch ändern, weil es pro 6.000 Leute auch ein Verwaltungszentrum geben wird. Die paar Mitarbeiter und die Kirchenvorstände sind dann vielleicht für zehn bis zwölf Gebäude, mehrere Kitas und zwei Friedhöfe zuständig. Herzlichen Glückwunsch!
Das Berufsbild des Pfarrers in Sachsen wird sich dementsprechend auch ändern …
Die Landeskirche weiß jetzt schon, dass sie nicht genügend fitte Pfarrer hat, um sie auf ein Verwaltungszentrum zu setzen. Das wird meines Erachtens bei den Pfarrern zu einer deutlich erhöhten Burnout-Quote führen. Und die Performance der Leute innerhalb der Kirchenspiele wird sich deutlich unterscheiden. Ich habe nicht den Eindruck, dass Leute über diese Effekte strukturiert nachdenken. Dann geht es noch um die Zusammenfassung der 6.000: Was passt räumlich, theologisch? Das wird allein schon schwer genug, dies sinnvoll zusammenzustellen.
Es wird auch dazu führen, dass die Anzahl der Kirchen, die nebenbei noch ein innovatives Projekt nach dem anderen raushauen, zurückgehen wird. Die Anzahl der Stränge und damit auch die Anzahl der Rückkopplungen nehmen zu. Das alles im Blick zu behalten, ist eine enorme Aufgabe für Pfarrer und Kirchgemeinden. Der Effekt von Kirche im öffentlichen Raum wird dadurch insgesamt zurückgehen.
Was versteckt sich hinter dem Terminus postmodernes Verständnis von Kirchgemeinden, den Sie ins Spiel gebracht haben?
Es gibt innerhalb der praktischen Theologie, als Wissenschaft, die sich damit auseinandersetzt, ein paar Grundspielarten, wie man Gemeinde in der Postmoderne spielen kann. Da gibt es die Möglichkeit, es so zu spielen wie immer: klassisch, mit Gebäuden, Ehrenamtlichen und dem normalen Rollenverständnis.
Das zweite theologische Verständnis sieht Gemeinden als Herbergen: Was habe ich für Kirchglieder und Nachbarn sowie vor Ort Arbeitende und was brauchen sie von mir?
Das dritte Verständnis geht davon aus, dass Kirche viele Gebäude hat und sich an vielen Gebäuden verorten kann – nicht nur in einer Kirche, sondern sie sucht Gebäude auf, wo Kirche Wirksamkeit entfalten kann. Man könnte alternativ Kirche nicht als Ort dauerhafter Angebote sehen, sondern projektartig verstehen.
Mein Favorit ist diese Alternative: Kirchgemeinde als Netzwerkpartner zu verstehen und Wirkungsketten aufzubauen. Die Herausforderung für viele Kirchenvorstände ist, sich mal mit Varianten zu ihrer Kirchenarbeit auseinanderzusetzen. Die Anzahl der Kirchgemeinden, die auf ein anderes Modell als das klassische umschwenken, wird in Leipzig klar erkennbar und zugleich übersichtlich sein. Kirchliche Leitung ist in der Postmoderne deutlich schwieriger geworden, das sagte ich bereits.
Es braucht daher auch Unterstützung derer, die nicht jede Woche in den Gottesdienst kommen, denen aber die Gemeinde am Herzen liegt und vor allem konzeptionell gut drauf sind. Aber die Frage steht: Wie kriegt man diese Menschen in Kirchenvertretungen? Denn unsere Kirchenvorstände brauchen diesen frischen Wind.
Die Schwesternkirchen Peters und Bethlehem haben sich in den letzten Jahren enorm für Flüchtlinge engagiert. Wie sehen Sie die Insolvenz des Flüchtlingsrats?
Es ist für ein relevantes Politikfeld in der Stadt eine Zäsur. Es gab im Internet hunderte hämische Kommentare. Das ist deplatziert. Was der Flüchtlingsrat inhaltlich und unter höchsten persönlichen Einsatz der Beteiligten geleistet hat, verdient Respekt. Das weiß ich nicht nur von der 13-köpfigen Familie, die bei uns im Pfarrhaus in Frieden und Freiheit und vor allem mit Gestaltungsmöglichkeiten wohnt.
Bei der Beurteilung der Arbeit des Flüchtlingsrats sollte man nicht das alte Schwarz-Weiß-Spiel spielen, sondern differenzieren. Zum Beispiel hat der Flüchtlingsrat auf städtischen Veranstaltungen zu Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften eine wichtige Rolle übernommen. Der Flüchtlingsrat war ein Leader und diese Leader-Rolle ist jetzt frei. Wer macht denn jetzt statt des Flüchtlingsrats Erstinformations-Veranstaltungen?
Die haben viele Dinge abgeräumt, damit in der Debatte in der Stadtgesellschaft nichts schiefgeht. Man kann jetzt nicht so tun, als ob dieses Loch, was hinterlassen wurde, nicht da ist. Es gibt schon Anzeichen, dass diese Insolvenz Leuten, die Flüchtlingen gegenüber nicht gerade wohlwollend eingestellt sind, Auftrieb gibt.
Vielen Dank für das Gespräch.
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