In den Mittagsstunden dieses Sonntags ist Dr. Hinrich Lehmann-Grube nach schwerer Krankheit im Alter von 84 Jahren gestorben. Lehmann-Grube war von 1990 bis 1998 der erste demokratisch gewählte Oberbürgermeister der Stadt Leipzig nach der Friedlichen Revolution. Mit ihm verliert die Stadt Leipzig nicht nur den letzten noch lebenden Ehrenbürger, sondern auch eine herausragende Persönlichkeit und vorbildlichen Bürger.
Er hat als Oberbürgermeister die entscheidenden Weichenstellungen für die Stadterneuerung initiiert. Ihm ist es auch zu verdanken, dass in den Jahren nach 1990 die Stadtverwaltung grundlegend reformiert und die Basis für den wirtschaftlichen Aufschwung und die rasante Entwicklung Leipzigs gelegt wurde. Durch seinen klaren wie integrativen Kurs hat er, der gestandene und überzeugte Sozialdemokrat, es vermocht, im Stadtrat mit allen politischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten und sie für die notwendigen Entscheidungsprozesse zu gewinnen: von der CDU bis zur damaligen PDS (heutige Die Linke). Er hat sich nie als der Besser-Wessi aufgespielt. Für ihn zählten Kompetenz und Überzeugungskraft.
Mit Hinrich Lehmann-Grube hat mich in den vergangenen 25 Jahren eine sehr schöne Freundschaft verbunden, die über die gemeinsame Zugehörigkeit zur SPD hinausging und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war. Das war zunächst so nicht zu erwarten. Ähnlich wie Helmut Schmidt hatte Hinrich Lehmann-Grube, obwohl der Evangelischen Kirche angehörend, eine protestantische Distanz zum Glauben. Als ich im März 1992 meine Arbeit als Pfarrer an der Thomaskirche begann, rief ich im Büro des Oberbürgermeisters an und bat um einen Gesprächstermin. Ich wollte mich bei Hinrich Lehmann-Grube vorstellen. Doch der Anruf blieb ohne Resonanz.
So ging ich am 1. Mai 1992 zur Mai-Kundgebung am Musik-Pavillon im Zetkin-Park. Dort sollte der damalige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf sprechen. Lehmann-Grube war auch anwesend. Ich nutzte die Gelegenheit und stellte mich ihm vor. Seine Reaktion war verhalten. Vielleicht lag das aber daran, dass während der Rede von Biedenkopf dieser mit einem roten Farbbeutel beworfen wurde und die Stimmung äußerst spannungsgeladen war. 1993 kam es dann zu einer zweiten Begegnung – am Telefon. Hintergrund: Die Messe GmbH wollte eine „1. Internationale Waffenmesse“ im Untergrundmessehaus (Marktplatz) veranstalten.
Dagegen hatte ich zusammen mit Pfarrer Christian Führer von der Nikolaikirche Protest organisiert. Wir sammelten über 4.000 Unterschriften. Nun wollten wir die Unterschriften dem Oberbürgermeister öffentlich auf dem Thomaskirchhof übergeben. Doch Lehmann-Grube kam nicht. Dafür erhielt ich einen Anruf, indem er mich unmissverständlich wissen ließ: er lasse sich nicht „vorladen“ – und beendete abrupt das Gespräch. Da ich nach kurzem Nachdenken für seine Position durchaus Verständnis aufbringen konnte, habe ich ihm einen Brief geschrieben. Darin habe ich noch einmal die Beweggründe der Aktion dargelegt und meiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass wir mehr gemeinsame Überzeugungen haben als Unterschiede – zumal er sich selbst auch gegen die Waffenmesse ausgesprochen hatte. Er antwortete postwendend auf den Brief mit der schönen Satz: „Sie sollen wissen, dass ich zwar nicht vergesslich, aber auch nicht nachtragend bin.“ (Übrigens: Es fand nie mehr eine Waffenmesse statt.)
Danach haben wir uns gut verstanden, vor allem auch als Sozialdemokraten, und Meinungsverschiedenheiten (wie in Sachen Unikirche) konnten wir im Guten austragen. Meine Hochachtung vor ihm, seiner Leistung und Gradlinigkeit ist stetig gewachsen. 1994 habe ich ihn bei der OB-Wahl öffentlich unterstützt und war dann ziemlich fassungslos, dass Hinrich Lehmann-Grube die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verpasste. Denn da war schon sichtbar, dass Lehmann-Grube für die Stadt Leipzig ein Glückfall war.
Doch die Wahrnehmung vieler Bürger/innen war damals eine andere. Hoffentlich erinnern sich noch viele Leipziger/innen daran, dass 1994/95 Hinrich Lehmann-Grube relativ einsam für den Umbau des Hauptbahnhofs stritt und ihn Gott sei Dank durchsetzte. Er gab wenig auf „des Volkes Stimme“, aber hielt sehr viel von Beteiligung der Bürger/innen. Er hatte ein feines Gespür für unterschiedliche Stimmungslagen, aber er drehte seine Meinung nicht nach dem Wind. Was in der Presse stand, war ihm nicht gleichgültig. Seine Überzeugungen – nicht aus dem Bauch heraus, sondern wohl begründet – waren ihm aber wichtiger als ihm schmeichelnde Medien oder der Beifall der Massen. So ließ er sich von den Protestveranstaltungen gegen die Umgestaltung des Bahnhofs nicht beirren. Ähnliches kann man auch vom City-Tunnel sagen. Auch dieses Projekt hat er auf den Weg gebracht. Heute will niemand mehr den Promenaden Hauptbahnhof und den City-Tunnel missen – und die neue Messe schon gar nicht. An Hinrich Lehmann-Grube kann man den Unterschied zwischen einem in der rechtsstaatlichen Demokratie verankerten Politiker und einem Populisten studieren.
Hinrich Lehmann-Grube hatte entscheidenden Anteil an der Renovierung der Thomaskirche. Noch in seiner Funktion als Oberbürgermeister hat er die Gründung des Vereins Thomaskirche-Bach 2000 mit befördert und viele Türen geöffnet. Das lag auch daran, dass er den damaligen Superintendenten Johannes Richter (2004 verstorben) sehr schätzte. Er selbst gehörte dann in der Zeit seines Ruhestands bis 2014 dem Vorstand dieses äußerst erfolgreich wirkenden Vereins an. Ebenso war er Mitglied im forum thomanum Leipzig e.V..
Mit wachem Interesse und der ihm eigenen Skepsis verfolgte er das Wachsen des Bildungscampus forum thomanum in der Nachbarschaft seines Hauses. Lehmann-Grube gehörte aber zu den Menschen, die sich nicht in ihrer Skepsis einigelten, sondern die sich überzeugen ließen. So kam es dann auch zu den seit 1999 von der Stadt Leipzig organisierten jährlichen Bachfesten, an denen Lehmann-Grube bis zuletzt lebhaften Anteil nahm.
Lehmann-Grube war nicht nur ein politischer Mensch, in der Sozialdemokratie verankert. Er war auch ein Mann der Kultur, belesen und sprachbegabt, Freund des Theaters und der bildenden Kunst (das Museumsneubau geht auf seine Initiative zurück) und selbst hochmusikalisch. Unvergessen, dass die Bürgermeister in seiner Amtszeit in der Lage waren, Männerchöre zu singen. Unvergessen aber auch die schönen Hausmusikabende, zu denen er und seine Frau Ursula in seine Wohnung einluden und sehr unterschiedliche Menschen zusammenführten: zunächst das musikalische Programm mit dem Streichquartett, in dem Lehmann-Grube die Bratsche spielte, und danach viele intensive Gespräche und Diskussionen.
Lehmann-Grube war für mich in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Wie er 1998 aus einem sehr öffentlichkeitswirksamen Amt in den Ruhestand gegangen ist, war für mich sehr eindrücklich. Er hat sich in die aktuellen Stadtpolitik nicht mehr eingemischt, aber bis zuletzt ganz viel für die Stadt Leipzig getan: in vielen Vereinen, im SPD-Ortsverein Leipzig-Mitte, als kluger Ratgeber, als präsenter und immer neugieriger Ehrenbürger und Zeitgenosse. Dass für ihn seine Frau Ursula die wesentliche und wichtige Stütze, Wegbegleiterin und Ratgeberin war, konnte jeder spüren, der beide erlebte. Das dokumentiert auch ihr in ein Buch gefasstes „Leipziger Tagebuch 1990/91“.
Sie war ihm auch in den letzten, besonders schweren Monaten seiner Krankheit ganz nahe. Beim letzten Besuch im Juni haben wir noch einmal viele gemeinsame Erlebnisse Revue passieren lassen, aber auch aktuelle politische Fragen diskutiert. Von der schweren Erkrankung gezeichnet war zu spüren, wie dankbar er für das Zuhause war, das ihm seine Frau so wunderbar gestaltete, und wie sehr er auch mit sich im Reinen war. Nach dieser Lebensleistung und dem so reichen Familienleben konnte er das auch sein. Bei aller Traurigkeit darüber, dass Hinrich Lehmann-Grube nun nicht mehr mit uns auf dieser Erde das Leben teilt – seine Familie, die Stadt Leipzig, die SPD, die Kirchgemeinde St. Thomas und viele andere können nur froh und dankbar für dieses reiche und intensive Leben sein.
So wünsche ich seiner Frau und den Familien seiner Kinder ein segensreiches Abschiednehmen und viel Kraft und Zuversicht für die kommende Zeit.
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