Wir werden diese Serie wahrscheinlich bis zum Teil 100 oder 200 weitertreiben mรผssen, bis das Thema endlich die wertgeschรคtzte Aufmerksamkeit der hohen Politik erreicht und dort so eine Art โ€žKlickโ€œ auslรถst: โ€žAch ja, wir mรผssen ja tatsรคchlich mal ein paar Probleme lรถsen. Sonst geht Europa vor die Hunde.โ€œ Denn ein Problem bei der Sache ist: Die Skandal-Politiker beherrschen die Bรผhne. Und รผberschreien jedes vernรผnftige Gesprรคch.

Was unter anderem dafรผr sorgt, dass Europa immer wieder neu erfunden werden muss. Bรผcher werden geschrieben, die klug und grรผndlich begrรผnden, was schieflรคuft und was geรคndert werden kann und muss.

Ich erinnere nur an die beiden Bรผchlein von Evelyn Roll โ€žWir sind Europa!โ€œ und von Ulrike Guรฉrot โ€žDer neue Bรผrgerkriegโ€œ.

Aber es geht im groรŸen Gedรถns unter, denn das Geschrei der falschen Patrioten hat ja Wirkung: Es sorgt dafรผr, dass auch das ganze demokratische Spektrum der Parteien auf diesen patriotischen Massenrausch starrt wie das Kaninchen auf die Schlange: โ€žBitte, bitte, friss mich nicht!โ€œ

Natรผrlich beeindruckt das diese Mรถchtegern-Patrioten nicht.

Oder eben โ€žfalschen Patriotenโ€œ, wie sie Henrik Mรผller in seinem Buch โ€žNationaltheaterโ€œ nennt. Denn von Wirtschaft haben diese Heimatfrontkรคmpfer meist keine Ahnung, nicht mal davon, welche Kosten ihre Wiederbelebung des alten Patriarchenstaats haben wird. Das ist ein Drama, weil die meisten Bรผrger von wirtschaftlichen Zusammenhรคngen auch keine Ahnung haben. Es kommt in ihrem Mathematikunterricht รผberhaupt nicht vor, wie man Warenstrรถme berechnet, Geldumlรคufe und die Effekte von Arbeitsteilung, Steuerpolitik oder Investitionen. Das haben nicht mal alle BWL-Studenten in ihrem Studium.

Unsere Welt ist komplex. Und daran kann man nichts รคndern. Es sieht sogar ganz so aus, dass die meisten Politiker von dieser Komplexitรคt รผberfordert sind. Ich frage mich zwar, was sie dann in der Politik zu suchen haben. Aber es ist ja ein verlockendes Feld fรผr Intriganten, Machtdurstige und Phrasendrescher. Leider.

Aber hier soll es mal nicht um Wirtschaft gehen, sondern um eine verblรผffende Feststellung: Henrik Mรผller, Professor fรผr wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universitรคt Dortmund, scheint nicht mal mitgekriegt zu haben, was die beiden oben erwรคhnten Autorinnen verรถffentlicht haben. Dass er nicht gelesen hat, was die L-IZ geschrieben hat โ€“ da wรผrde ich fast sagen: Geschenkt. Ist aber nicht geschenkt, sondern typisch. Es gehรถrt zur Ignoranz der bundesdeutschen Medienwahrnehmung, die auch nach 27 Jahren eine fast ausschlieรŸlich westdeutsch normierte ist. Man interessiert sich da drรผben in Dortmund oder Wuppertal รผberhaupt nicht fรผr das, was im Osten verรถffentlicht wird.

Vielleicht noch fรผr die Heimatsender MDR & Co., die das Land wie eine Hutzelbude beschreiben, sich aber mit den politischen Problemen nicht mal ansatzweise auseinandersetzen.

Aber wie gesagt: Selbst Ulrike Guรฉrots Buch hat der Professor nicht wahrgenommen. Und dann hat er sich mit seinem emeritierten Kollegen Wolfram Richter hingesetzt und sich ein โ€žpaar grundlegende Gedanken darรผber gemacht. Und wir sind zu einem ziemlich radikalen Ansatz gelangt: Lasst uns die weitere europรคische Integration in die Hรคnde der Bรผrger legen! Lasst uns der Demokratie vertrauen!โ€œ

Logisch, dass die beiden zum selben Ergebnis kamen. Man muss dieses Europa endlich aus den Hรคnden der Technokraten nehmen, die die EU verwalten, als wรคre es ein riesiger Konzern, in dem alle zu spuren haben. Ihr Europa ist so grau und konturlos, dass selbst Gutgewillte mit den Schultern zucken, wenn man sie fragt, was daran so aufregend und begeisternd ist. Oder ob man da mitmachen kann.

Denn die schnellste Erkenntnis ist ja: Man kann nicht mitmachen. Man wird gemacht. Leute, deren Namen man zuvor nie gehรถrt hat und die von ihren Regierungen nach Brรผssel entsandt wurden, basteln Vertrรคge und Verordnungen zusammen, die kein Mensch liest (oder gar lesen darf) โ€“ auรŸer die stets eingeladenen Anwรคlte der groรŸen Konzerne und Lobbyverbรคnde, ohne die in Brรผssel gar nichts mehr lรคuft. Das sind die Gruppen, die ihre Interessen durchsetzen. Mit Demokratie hat das schon lange nichts mehr zu tun.

Mit Vernunft รผbrigens auch nicht. So leitet man keine Staatengemeinschaft. Das merkt man spรคtestens, wenn Lรคnder wie Polen und Ungarn austicken und den patriotischen Stinkefinger zeigen.

Da waren dann in Brรผssel gleich alle beleidigt.

Obwohl vorher lรคngst deutlich war, dass das Wichtigste fehlte: das Gesprรคch. Die europรคische Verstรคndigung der Bรผrger.

Man โ€žtagtโ€œ zwar immer wieder und die Bundesregierung gibt beim Herrn Juncker ihre Bestellungen ab. Aber mit denen, die es eigentlich angeht, redet kein Schwein โ€“ den Bรผrgern. Und zwar nicht den hochinvolvierten in den westlichen GroรŸstรคdten, sondern mit den Millionen armen Sรคcken in den Vorstรคdten und Hinterm-Berg-Regionen. Denn die merken sehr direkt, dass dieses Europa doch nicht fรผr alle da ist.

Das Gesprรคch erfolgt โ€“ Vorsicht: Fremdwort โ€“ subsidiรคr. Zumindest nennen es die Technokraten in Brรผssel so. Und die Technokraten in Dresden ebenfalls. Es steht in jeder Landtagsvorlage, in der die Sรคchsische Staatsregierung versucht, irgendeine Stellungnahme zu irgendeinem neuen Beschluss aus Brรผssel zu formulieren. Das ist die unterste Ebene der Beteiligung: Die Regionalregierungen dรผrfen zumindest noch ihre Bauchschmerzen formulieren.

Aber die Sรคchsische Regierung verwendet das Wort Subsidiaritรคt genauso falsch wie die Manager in Brรผssel. Es hat nichts damit zu tun, dass man โ€žauch mal ganz unten anfragtโ€œ, ob man dort vielleicht Kritik am Geplanten รคuรŸern mรถchte. Weil das aber ein par hundert Regionen sind, zerleppert das Ganze, bis es in Brรผssel gesammelt, gefiltert und abgehakt wird.

Subsidiaritรคt aber heiรŸt: Alles, was nicht auf oberster Ebene geregelt und entschieden werden muss, wird auf die niedrigstmรถgliche Ebene verwiesen, dort mit Geld und Befugnissen ausgestattet und man รผberlรคsst den Leuten dort selbst, die Sache zu regeln.

Aber das wรคre schon ein Aspekt dessen, was die EU, wenn sie Akzeptanz und breite Unterstรผtzung bekommen mรถchte, eigentlich braucht: Vertrauen.

Derzeit haben wir einen misstrauischen Regierungsverbund, der sogar dem Parlament misstraut und damit ganz von allein die Stimmung erzeugt, die Nationalisten in die Hand spielt.

Logisch, dass Henrik Mรผller und Wolfram F. Richter in ihrem Essay fรผr den โ€žWirtschaftsdienstโ€œ mit dem Titel โ€žEuropa am Scheideweg โ€“ ein Vorschlag zur politischen Weiterentwicklungโ€œ zur selben Lรถsung kommen wie unter anderem die oben genannten Autorinnen. Denn die EU in ihrer Form hat ganz logische Konsequenzen. Und das sind eindeutig nicht die, die die groรŸen Parteien in Deutschland derzeit als kleinliche Zugestรคndnisse in ihre Wahlprogramme geschrieben haben. Tatsรคchlich wollen sie der EU-Kommission mit ihren Manager-Typen noch mehr Macht zuschustern.

Auf โ€žSpiegel Onlineโ€œ hat Mรผller das noch einmal als Kolumne formuliert: โ€žEs ist nur so: Weder die Bรผrger noch die Verfassungsrichter werden das auf Dauer akzeptieren. Denn je mehr Kompetenzen diese Eurozonen-Exekutive bekommt, desto mehr wird das Demokratieprinzip ausgehebelt.โ€œ

Oh ja, es ist wirklich an der Zeit, dass sich unsere demokratischen Parteien mal wieder Gedanken machen รผber Demokratie. Zurzeit sind sie ja von รœberwachung, Ausgrenzung und Abschottung geradezu besoffen. Es steckt in ihnen ganz unรผbersehbar noch immer der alte, grimmige preuรŸische Geist.

Und was fehlt der EU?

Henrik Mรผller: โ€žNach wie vor fehlen der Eurozone einige Merkmale, die erfolgreiche Wรคhrungsgebiete gewรถhnlich aufweisen: ein gemeinsames Budget, das einen gewissen finanziellen Ausgleich zwischen wirtschaftlich starken und schwรคcheren Gebieten herstellt; eine รผbergeordnete staatliche Ebene, die eben diese Transfers vornehmen kann; eine Volksvertretung, die dieser fรถderalen Ebene Legitimation verleiht.โ€œ

Das hat Mรผller geschrieben. Aber damit bringt er beilรคufig auf den Punkt, was viele EU-Bรผrger empfinden: Das von ihnen gewรคhlte EU-Parlament ist nur eine Schauveranstaltung, ohne Legitimation. Es kann der EU-Kommission und ihrem Prรคsidenten keinen Einhalt gebieten, kann ihn nicht aufhalten, kann keine Gesetze machen oder gar Beschlรผsse fassen, die von der EU-Regierung (die wir nicht haben) auch umgesetzt werden mรผssen.

Na gut: Jetzt wurde das endlich auch mal von einem Professor aus Dortmund gesagt. Jetzt schauen wir mal, bis auch eine unserer geliebten deutschen Wahlkรคmpfer den Mumm haben, das so zu formulieren und vor allem: auch umzusetzen.

Denn eines werden die Bรผrger Europas nicht lange mehr aushalten: Dass die EU eine โ€žSache der Exekutive und der Spezialistenโ€œ bleibt, wie Henrik Mรผller schreibt. โ€žEine technokratische Veranstaltung.โ€œ

Die Serie zum Europa-Projekt.

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โ€œMan interessiert sich da drรผben in Dortmund oder Wuppertal รผberhaupt nicht fรผr das, was im Osten verรถffentlicht wird.โ€
Moooooment malโ€ฆ;O)

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