โWarum die Hรถllendemo so schnell eskalierteโ, titelte die โWeltโ. Andere Medien kopierten die Schlagzeile โPolizeistrategie bei G20-Protesten โgescheitertโโ. รbrigens alle mit den hรคmischen Gรคnsefรผรchen von dpa. Die Gรคnsefรผรchen verpasste die stockkonservative Nachrichtenagentur, weil das dummerweise eine Aussage der Linken war. Wie kann die Linke es wagen, eine deutsche Polizeistrategie fรผr gescheitert zu erklรคren?
Die โZeitโ lieร am 13. Juli gar den Soziologieprofessor Armin Nassehi zu Wort kommen mit der Behauptung โEine Linke braucht es nicht mehrโ. Der sich dann auch noch zu einer Behauptung wie dieser verstieg: โDie Polizei muss sich dafรผr rechtfertigen, einerseits friedliche Demonstrationen allzu sehr eingeschrรคnkt zu haben, andererseits angesichts der Gewalteskalation nicht prรคsent genug gewesen zu sein. Darin zeigt sich ein Dilemma von Polizeistrategien, auf der einen Seite durchaus wissen zu kรถnnen, dass und ob Versammlungen in einer bestimmten Situation eskalieren, auf der anderen Seite aber unter Rechtfertigungszwang zu geraten, wenn man allzu frรผhzeitig eingreift.โ
Wobei es diesmal nicht um Eskalation an sich geht. Denn der Professor aus Mรผnchen malt hier das Bild einer Polizei, die geradezu naiv an solche Groรereignisse herangeht. Als wรผrde sie jedes Mal bei Null anfangen und es im Vorfeld keine professionelle Erarbeitung des Lagebildes geben โ samt mรถglichst genauen Prognosen รผber Demonstrationsgrรถรe, Demonstrationsteilnehmer, deren Gewaltpotenzial und deren Strategien.
Dass der Professor ein seltsames Bild von โden Linkenโ hat, kann man im Artikel nachlesen. Eigentlich vertritt er dieselbe priesterliche Haltung, mit der derzeit der ganze Schwarm konservativer Forderer durchs Land zieht, โdie Linkenโ mรถgen sich jetzt endlich von der Gewalt der ganz, ganz Linken distanzieren.
Natรผrlich stรผrzt das jede Partei und jede Bewegung links von konservativ in ein Dilemma. Denn hinter der Forderung steckt etwas ganz anderes, worauf uns ein emsiger L-IZ-Leser aufmerksam machte, weil das โ natรผrlich โ auch im groรen Kosmos von Wikipedia zu finden ist.
Ja, es hilft alles nichts: L-IZ-Leser mรผssen mitarbeiten.
Und uns auch manchmal auf Stichworte hinweisen, die uns noch nicht untergekommen sind. Die Ahnung, dass sich da seit dem G8-Gipfel in Genua 2001, bei dem der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde, etwas verschoben hat, war ja schon da. Nicht nur bei den groรen Gipfeltreffen, bei denen die Polizei in allen betroffenen Lรคndern immer martialischer vorgeht โ auch bei all den zivilgesellschaftlichen Protesten, die sich in den letzten Jahren gegen die negativen Auswirkungen von Freihandel und Bankenregulierung richteten. Immer wieder eskalieren die oft phantasievollen Proteste, weil Polizei anders reagiert als noch vor 2001. Und vor allem steht eine Bewegung im Zentrum dieser verรคnderten Polizeistrategie: der Protest gegen die enthemmte Globalisierung.
Das Stichwort lautet โsummit policingโ
โDas Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung zeigte sich seit Ende der 1990er Jahre in einer neuen, transnationalen Protestwelle, die speziell auf internationale Gipfelveranstaltungen etwa der Welthandelsorganisation, der Weltbank, des Internationalen Wรคhrungsfonds und der Gruppen der G7, G8 und G20 abzielteโ, kann man lesen. Immer mehr und immer grรถรere Protestveranstaltungen fanden rund um diese Gipfel statt und erzwangen damit auch mehr Bilder und Berichterstattung รผber diesen Protest gegen die abgeschotteten Gesprรคche der Groรen.
Worauf es ja auch eine Reaktion der โMรคchtigenโ hรคtte geben kรถnnen โ ein Gesprรคchsangebot, eine echte Bereitschaft, die Kritik an der Globalisierung allein im Sinne der groรen Konzerne ernst zu nehmen.
Aber das ist bis heute nicht passiert.
Passiert ist dafรผr die รnderung der Polizeistrategie.
Wikipedia zitiert: โPetzold und Pichl stellten im Kriminologischen Journal 2013 am Beispiel von Blockupy fest, summit policing sei eine Strategie der โsozialen Kontrolle von Dissensโ. Die Polizei wรผrde verstรคrkt mit prognostischen Techniken arbeiten, um potentielle Stรถrer identifizieren zu kรถnnen, durch Kommunikationsmanagement die Deutungshoheit รผber die Situation zu gewinnen versuchen und einen permanenten Ausnahmezustand herstellen, der den Bรผrgerrechten entgegenstรผnde. In Deutschland bedeute dies unter anderem Kontrollen im Vorfeld, Polizeikessel, selektive Zugriffe gegen Demonstranten, die โVorhaltung starker, jederzeit zur Dominanz fรคhiger Einsatzkrรคfteโ und die Schaffung von Rรคumen zum Zweck der Kriminalisierung und Kontrolle von Aktivisten.โ
Und weiter: โDies kรถnne durch das Absperren ganzer Zonen mittels Hamburger Gitter sowie den Einsatz von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, Reiterstaffeln, Rรคumpanzern und Wasserwerfern geschehen. Aktivisten wรผrden damit vom Ort des Geschehens ferngehalten und dieser abgeschottet. Damit werden vorรผbergehend รถffentliche Rรคume in No-go-Areas (โrote Zonenโ) verwandelt, zu denen die allgemeine รffentlichkeit keinen oder nur noch eingeschrรคnkten Zugang erhรคlt, unabhรคngig davon, ob sie protestieren will oder nicht. Dies lรคuft auf einen โKampfโ um รถffentlichen Raum hinaus.โ
Das erinnert nicht nur an G20 in Hamburg. Genau so wurde das Ganze in Hamburg tatsรคchlich organisiert.
Logisch, dass eine derartige Aufrรผstung des polizeilichen Repertoires auch eine Aufrรผstung auf der anderen Seite regelrecht provoziert. Was nichts mit links oder nicht-links zu tun hat, sondern mit der simplen Frage: Wie reagieren eigentlich Menschen, die gegen politische Veranstaltungen demonstrieren wollen, weil das ihr gutes Recht als Staatsbรผrger ist, wenn dieses Recht mit jedem Gipfeltreffen weiter beschnitten und ausgehรถhlt wird? Wenn zwischen den Tagenden und dem Protest immer grรถรere Rรคume als No-go-Area abgeschottet werden und die Demonstrationsrouten immer weiter abgedrรคngt und eingeschrรคnkt werden?
Der grรถรte Teil reagiert friedlich und mit Phantasie und versucht mit buntem, friedlichem Protest dann doch irgendwie die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen. Samt journalistischer Hรคme. Mehrere unsere groรen Medien titelten am zweiten Tag von Hamburg รผber die โach so berechenbaren Gegenprotesteโ, haben also genau das, was in Hamburg friedlich passierte, รถffentlich lรคcherlich gemacht.
Und dann ist die Frage: Was machen dann die, denen das zu wenig ist?
Wie viele von denen greifen dann zu radikaleren Protestformen und begreifen das aggressive Vorgehen der Polizei als Affront?
รbrigens etwas, was nicht nur bei Protestbewegungen zu beobachten ist. In der ganzen westlichen Welt konnte das zunehmend aggressive Vorgehen der Polizei gegen jede Art von Protest beobachtet werden โ als wollte man auf der Straรe deutlich machen, dass man sich jede Kritik an einer rรผcksichtslosen Freihandelspolitik unbedingt mit Wasserwerfern, Trรคnengas und Schlagstรถcken verbeten will.
Nein, Hamburg war ganz eindeutig keine Ausnahme, sondern Teil einer immer lรคnger werdenden Kette von Ereignissen, bei denen Genua 2001 irgendwie der Anfangspunkt war, an dem das sichtbar wurde.
Und es sieht nicht so aus, als sollte Hamburg nun ein Moment des Innehaltens werden. Denn die groรen Stรคdte leiden ja nicht nur durch die martialische Abschottung zentraler Bereiche. Sie leiden auch durch eine fokussierte Berichterstattung, die sich dann nicht mehr mit den Grรผnden fรผr die polizeiliche Aufrรผstung und die zeitliche und rรคumliche Aufhebung von Bรผrgerrechten beschรคftigt, sondern mit dem, was auch der Wikipedia-Artikel benennt: โDer Polizei kommt zugute, dass Massenmedien, seriรถs oder auch dem Boulevard zuzuordnen, bei Gipfeltreffen bevorzugt รผber das Thema der Gewalt berichten, ob sie nun erwartet wird, ausbleibt oder tatsรคchlich stattfindet.โ
Was natรผrlich die Frage aufwirft: Wie viel Legitimitรคt hat eigentlich eine Politik noch, die derart massiv nicht nur Gegenproteste blockiert, sondern regelrecht zum Entgleisen zu bringen versucht, damit solche Bilder entstehen?
Denn die Bilder der Gewalt werden gerade von den sensationsgierigen Medien mit Dank aufgenommen und millionenfach verbreitet. Sie desavouieren den Gegenprotest und sind Munition fรผr all jene Hardliner, die jetzt noch mehr Einschrรคnkungen fรผr Demonstrations- und Bรผrgerrechte fordern. Und Argumentation gegenรผber Menschen, die dann vor lauter Angst schlotternd genau die Hardliner wรคhlen, die den Zustand verschรคrfen, weiter Waffen in aller Welt handeln und die Gesellschaft auch im Sinne des eigenen Machterhalts lieber weiter spalten, als sie zusammenzufรผhren.
Wenn sich die Diskursverweigerung der Regierungen in einer immer aggressiveren Polizeistrategie ausformt, dann lรคuft gewaltig etwas falsch.
Und die einzig logische Antwort ist eigentlich: Keine offene Stadt der Welt darf sich mehr fรผr solche Inszenierungen der rรผcksichtslosen Macht zur Verfรผgung stellen. Denn am Ende war es nichts anderes: eine Machtdemonstration mit einem sehr metallischen Beigeschmack.
Die Serie โNachdenken รผber โฆโ
In eigener Sache: Abo-Sommerauktion & Spendenaktion โZahl doch, was Du willstโ
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So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Es gibt 2 Kommentare
Ist eigentlich die Frage der โgebotenen Verhรคltnismรครigkeitโ im Ablauf beleuchtet wurden?
Wo ist die Presse, wenn es zur Aufklรคrung von psychologischen Fehlverhalten von Befehls-empfรคngern geht?
Jede Medaille hat zwei Seiten, warum wird immer nur von einer Seite medienpolitisch berichtet?
Danke fรผr den inhaltsreichen, guten Beitrag.
Gran-di-os! Ganz ehrlich.