Sie gehen ja um wie Epidemien. Einer mutmaรt, zwei kommen ins Grรผbeln, machen vier andere unsicher โ und am Ende geht eine Welle durchs Land und 1.000 Leute sind รผberzeugt, dass โan der Sache was dran istโ. Darรผber grรผbele ich dann auch in eigener Sache: Kann man Fragen stellen, die in die falsche Richtung laufen?
Leser โKarlโ war es, der unseren Beitrag โKann es sein, dass die Bรผrgerkriegsbilder aus Hamburg politisch erwรผnscht waren?โ mit dem Wรถrtchen Verschwรถrungstheorie kommentierte. Recht hat er, wenn er anspricht, dass wir vielleicht nie erfahren, wer da beim Polizeieinsatz in Hamburg nun was angewiesen hat. Oder ob es wirklich reine รberforderung war. Und auf jeden Fall der falsche Einsatzleiter. Was รผbrigens schon weit vor Hamburg bekannt war.
โG20-Einsatzleiter Hartmut Dudde. Er macht Hamburg zur Festungโ titelte die โMorgenpostโ schon am 16. Juni. Man hatte von vornherein also auf einen Einsatzleiter gesetzt, der mit Deeskalation nicht allzu viel am Hut hat.
Die Benennung von Einsatzleitern ist eine politische Entscheidung.
Also gibt es auch eine politische Verantwortung fรผr das, was dann einen Monat spรคter in Hamburg eskalierte. Ganz egal, wie man zu den Krachmeiern des Schwarzen Blocks steht oder nicht. Oder eben doch nicht, weil die Teilnehmer des Schwarzen Blocks eigentlich berechenbar sind. So flexibel sie in ihren Kampfmethoden sind, so simpel sind ihre Reaktionen auf Polizeieinsรคtze.
Und nicht nur sie betrifft das. Diese eskalierenden Begegnungen sind ja mittlerweile fast ein Ritual. Genauso wie die festungsartig abgeschotteten Tagungsorte der Politiker, die sich zu solchen inszenierten Gipfeltreffen einfinden. Erstaunlich, wie wenige Leute das seltsam finden. Warum finden die Regierenden keine virtuellen Wege, miteinander im Gesprรคch zu bleiben? Sie mรผssen ja nicht twittern. Was bringen diese ritualisierten Treffen eigentlich?
Nicht viel, stellte Oxfam ja nachher fest.
Und auffรคllig ist ebenfalls, dass auch der friedliche Protest in Hamburg zwar von den Medien wahrgenommen wurde โ aber er spielt im politischen Diskurs augenscheinlich keine Rolle. Er wirkt wie eine Art Kulturbegleitprogramm. รber das dann niemand mehr diskutiert. Es tut nicht weh. Und es stรถrt die Tagenden nicht weiter. Drei Welten stehen fein sรคuberlich nebeneinander. Und hinterher geht auch noch das รผbliche Lamento los, die irgendwie linken Parteien sollten sich bitte schรถn abgrenzen, distanzieren und entschuldigen. Sie seien auf dem โlinksradikalenโ Auge blind.
Natรผrlich ist auch das schon wieder Bundestageswahlkampf, Eskalationsstufe 2, tendierend zur 3.
Dass hinter Eskalationen auch noch ein anderes Phรคnomen steckt, machte mir seltsamerweise am Mittwoch, 12. Juli, ein Beitrag von Frank Patalong auf โSpiegel Onlineโ klar. Da ging es um Epidemien โ wie sie entstehen und sich ausbreiten, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Auรer, man ist gegen die schlimmsten Infektionen durch eine Impfung geschรผtzt. Auch das ein hochaktuelles Thema. Und auch deshalb hat Patalong diese selbsterlebte Hochzeits-Geschichte geschrieben. Die gerade deshalb berรผhrt, weil sie das Leben so beschreibt, wie es uns wirklich begegnet.
Aber wenn schon einmal verschiedene Geschichten gleichzeitig im Kopf sind, dann entdeckt man auch so etwas wie die รhnlichkeit zwischen Viren-Epidemien und der Ausbreitung von Bildern, Geschichten, Urteilen. Wobei das noch viel schneller geht. Da braucht man heutzutage gar keinen persรถnlichen Kontakt mehr. Das Zeug verbreitet sich ja virtuell noch viel schneller. Man steckt sich damit an, hat die Bilder im Kopf (die, je โheiรerโ sie sind, auch noch jede Menge Emotionen erzeugen), aber uns ist selten bewusst, wie wir uns so auch mit Wertungen, Vor-Urteilen und Vor-Festlegungen infizieren. Klar: Wir wollen alles genau wissen und ganz schnell eine Entscheidung treffen kรถnnen, ob wir das Gesehene nun als fรผr uns gefรคhrlich einstufen und entsprechend reagieren.
Doch die simple Erfahrung ist: So dicht an Ereignissen wissen wir eigentlich noch viel zu wenig. Im Gegenteil: Die Emotionen der Akteure vor Ort und die der Berichterstatter und Kommentatoren springen รผber, verwandeln die Medienwahrnehmung in eine Welle der gegenseitigen Ansteckung โ die Urteile รผberlagern die Fakten. Schnell glauben alle zu wissen, was warum passiert ist. Und noch ehe der Prozess vollendet ist, kippen dutzende Politiker ihre hochemotionalen Urteile und Forderungen in die Kanรคle.
Sage mir einer, ob er dabei noch zum Selberdenken kommt.
Ich bezweifle das.
Es gibt auch Meister der politischen Surf-Kunst, die genau so etwas ausnutzen, um politisch Stimmung zu machen. Der Moment ist gรผnstig: Millionen Menschen sind aufgeregt, glauben zu wissen, was passiert ist โ und sind leicht zu Dingen zu รผberreden, die mittel- und langfristig fรผr unsere Gesellschaft brandgefรคhrlich sind.
Darรผber berichtete ganz am Ende eines Artikels, in dem es eigentlich um โVerdรคchtige G-20-Randaliererโ ging, die FAZ am Mittwoch. โLaut einer Umfrage befรผrwortet angesichts der Krawalle am Rande des Gipfels jeder zweite Bรผrger in Deutschland stรคrkere Einschrรคnkungen der Versammlungsfreiheit. In einer am Dienstag verรถffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sprachen sich 50 Prozent der Befragten dafรผr aus, dass der Staat Gewalt bei Demonstrationen โunbedingtโ verhindern mรผsse, auch wenn damit das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit beschrรคnkt werde.โ
Das in England ansรคssige Meinungs(forschungs)Institut hat tatsรคchlich noch mitten in diesem medialen Rausch der Emotionen eine Umfrage gestartet, obwohl alle Erfahrungen mit solchen Umfragen zeigen, dass gerade die Nรคhe zu diesen Ereignissen die Ergebnisse massiv verzerrt.
Genauso รผbrigens, wie Fragen zur Sicherheit vรถllig anders ausfallen, wenn sie mitten in eine Zeit fallen, in denen Medien massiv รผber Kriminalitรคt und Randale berichten. YouGov hat tatsรคchlich frech getitelt: โDeutsche befรผrworten Einschrรคnkung des Demonstrationsrechtsโ.
Die Fragen waren auch noch mehr als suggestiv.
Aber tatsรคchlich ist YouGov mit seiner Befragung auch nur auf der Empรถrungswelle mitgeschwommen. Und liefert so nebenbei auch wieder Argumente fรผr Politiker, die europaweite Dateien fรผr โlinke Gewalttรคterโ wollen.
Die Frage ging sogar noch weiter: โEs sollte eine europรคische Datenbank erstellt werden, in der die Namen und persรถnlichen Informationen von linken Gewalttรคtern gesammelt werden.โ Wie fragwรผrdig solche Datenbanken sind, hat man ja gerade in Sachsen erlebt, wo โ vรถllig gesetzwidrig โ รผber Jahre immer mehr ausufernde โGewalttรคterโ-Dateien angelegt wurden.
Und wie war das in Hamburg? Die Polizei verfรผgte รผber die Daten von Hunderten mรถglicherweise anreisenden gewaltbereiten โKrawalltouristenโ. Und sie hat trotzdem nicht verhindern kรถnnen, dass etliche davon nach Hamburg hineinkamen. Noch ein Schritt weiter gedacht, folgt daraus ja, dass wir zwingend eine Totalรผberwachung brauchen, bei der Menschen mit ihren Bewegungsprofilen jederzeit und รผberall erfasst werden kรถnnen. Was gerade konservative Politiker jetzt fordern โ mit dem Feigenblรคttchen โlinke Randaliererโ โ ist der erste groรe Schritt zu einer europaweit vernetzten รberwachung.
Er ist รผbrigens auch die Konsequenz eines obrigkeitsstaatlichen Denkens, das in Abschottung und รberwachung den Weg zur Befriedung der Gesellschaft sieht.
Was ein anderes Thema ist. Was aber dazu gehรถrt. Denn ein derart stringentes politisches Denken hat in vielen Bereichen Folgen. Es bestimmt die Sicherheitspolitik, sorgt dafรผr, dass Polizeieinsatzleiter Stรคdte โzu Festungenโ machen wollen (keine wirklich gute Erinnerung), dass immer mehr รberwachung gesetzlich legitimiert wird (Stichwort: Staats-Trojaner) und auch, dass Politiker in ihren รถffentlichen Auftritten regelrecht heiรlaufen und immer weitere Verschรคrfungen der Gesetze fordern โฆ
โฆ statt รผber andere Wege zur Konfliktbeilegung รผberhaupt nachzudenken. Darรผber, wie sich kompromisslose Haltungen gegenseitig hochschaukeln, habe ich ja schon geschrieben.
Gerade deshalb sollten wir lernen, mit Konflikten anders umzugehen. Auch ruhiger und รผberlegter. Denn eines ist nach Hamburg sichtbar: Gewalt lรถst Gegengewalt aus. Immer. Automatisch und sofort. Wenn politische Instanzen auf kompromisslose Hรคrte setzen, dann wollen sie genau das.
Alles andere wรคre unlogisch. Dazu gehรถrt auch die etwas leiser diskutierte Frage, ob solche G20-Treffen mitten in einer Groรstadt stattfinden sollen โ und dann trotzdem abgeschottet werden wie eine Festung. Auch das ist: unlogisch.
Es sei denn, die geehrten Politiker der mรคchtigen Staaten hรคtten mindestens noch einen Tagesordnungspunkt mit auf der Agenda: eine รถffentliche Diskussion mit den gastgebenden Bรผrgern โ auf freiem Platz oder mit Live-รbertragung ins Freie. Wo sie dann mal zeigen kรถnnen, ob sie zur Diskussion fรคhig sind.
Diese โKonfrontationโ aber gibt es nicht. Eine abgeschottete Denkwelt trifft auf die andere. Und die Sorgen der einen interessieren die anderen nicht die Bohne. Oder nur am Rande. Auch das ist ein Bild. Und das hat dann eher nichts mit Verschwรถrung zu tun, sondern mit einer in sich abgekapselten Politik, die รผber Freihandelsvertrรคge genauso unter Ausschluss der รffentlichkeit diskutiert wie รผber Steuerpolitik.
Dazu noch das kurze Oxfam-Statement: โStatt mit einer wirkungsvollen Schwarzen Liste Steueroasen unter Druck zu setzen, haben die G20 diesen Lรคndern de facto einen Freifahrtschein ausgestellt. Auch haben sie es versรคumt, die Konzerne zu einer รถffentlichen lรคnderbezogenen Berichterstattung รผber ihre Gewinne und darauf gezahlte Steuern zu verpflichten.โ
Davon lenkten dann die martialischen Bilder auf der Straรe natรผrlich auch ab. Aber die Bilder und die Urteile waren ruckzuck in der Welt und haben lรคngst ihre Wirkung erzielt. Wieder wird รผber den Abbau von Bรผrgerrechten debattiert. Wir werden immer mehr zu einer Emotions-Demokratie, in der diejenigen ihre Interessen durchdrรผcken, die das Aufflammen von Emotionen am besten in politische Reaktionen umzusetzen verstehen.
Wir erleben es gerade sehr anschaulich, wie das passiert. Und wie einige Parteien im Wahlkampf nur noch eines kennen: Eskalation um jeden Preis. Als wรคre Politik ein Wrestling-Wettbewerb, bei dem die grรถรten Schreihรคlse zum Show-Kampf rufen.
Und was kommt nach dem Kampf?
Die nรคchste Runde?
Herrliche Zeiten.
Serie: โNachdenken รผber โฆโ
Zum Artikel (aus der Reihe โNachdenken รผber โฆ) auf L-IZ.de
Kann es sein, dass die Bรผrgerkriegsbilder aus Hamburg politisch erwรผnscht waren?
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