Bevor wir hier wieder mit Schuldzuweisungen beginnen, stellen wir einfach fest: Was unsere gesellschaftlichen Konfliktstrategien betrifft, befinden wir uns im Jahre 2017 noch immer vor der Geburt Christi. Seitdem haben mehrere tausend Kriege stattgefunden, aber gelernt haben einige von uns daraus nicht die Bohne. Was in Hamburg sehr schรถn zu beobachten war. Da hilft keine Talkshow und kein Fingerzeigen. Worum geht es?

Um etwas, was ich bislang zumindest vermutete, dass es in den 80 Stunden โ€žPsychologie und Kommunikationstrainingโ€œ, die Polizeianwรคrter fรผr den hรถheren Dienst in jedem Ausbildungsjahr haben, auch das Allersimpelste vorkommt: Konfliktmanagement.

Es gibt ja nun wirklich keinen Beruf, der in mehr zum Teil gefรคhrlichen Konfliktsituationen professionell handeln muss als die Polizei. In den USA kennt man ja mittlerweile die Bilder: Da wird gar nicht erst die Lage beruhigt, sondern sofort die Waffe gezรผckt. Und wenn der andere Mensch nur einen falschen Mucks sagt, bekommt er blaue Bohnen.

Das ist โ€“ psychologisch betrachtet โ€“ dumm.

So wie der Beginn dessen, was in Hamburg zu sehen war. Aber der Beginn liegt nicht am Freitag oder in der Rรคumung des Zeltplatzes.

Er lag davor.

Und er liegt in all den Stimmen, die nun nach Hamburg die Schuld nur bei den Anderen suchen. Und zum Halali blasen. Aber auch das ist schon ein Ergebnis.

Wikipedia ist zwar kein wissenschaftliches Werk. Aber viele Artikel bringen die Dinge, die wichtig sind, auf den Punkt. Jeder Polizeiprรคsident, Innenminister oder Kommentator kรถnnte dort jederzeit hinschauen. Stichwort: Eskalation. Unterpunkt: Konfliktmanagement.

Denn der Mensch ist auch im Jahr 2017 nach Christi Geburt ein Steinzeitbewohner. Alle seine Emotionen, Hormonausschรผttungen und jederzeit abrufbaren Handlungsweisen sind in Jahrmillionen in freier Wildbahn trainiert und verinnerlicht. Es ging Jahrhunderttausende immer um das nackte รœberleben. Da war fรผr Vernunft und Friedlichkeit nicht viel Zeit. Wenn der wilde Sรคbelzahntiger angriff, musste reagiert werden. Ohne Rรผcksicht auf Verluste. Nur wer sofort auf volle Aggression umschalten konnte, hatte eine รœberlebenschance (oder er rannte weg โ€“ auch das ist menschlich).

Aber was selbst Kirchenfรผrsten in der Vergangenheit selten begriffen haben โ€“ und auch viele heutige Lutherverehrer nicht: Der ganze Schlamassel um Jesus Christus (egal, ob er tatsรคchlich so stattfand oder anders), war eine Zeitenwende. Selbst wenn wir den eigentlichen Inhalt der Bergpredigt auf Paulus und seine Mitstreiter verlagern โ€“ es kommt auf dasselbe heraus: Nach ungefรคhr 5.000, 6.000 Jahren moderner Staatenbildung tauchte bei irgendjemandem da unten in der Levante der nicht mehr zu beruhigende Gedanke auf, dass die Menschheit einen Punkt erreicht hatte, an dem die alten Stammesregeln nicht mehr funktionierten und das Volk (in diesem Fall die Juden) geradeswegs in Chaos und Anarchie stรผrzten. Wilde Propheten liefen herum und beschworen das Ende der Welt, riefen zum Armageddon auf und zum fanatischen Endkampf.

Man darf sich durchaus an die Gegenwart erinnert fรผhlen. Wenn Menschen sich wie Stammeskrieger verhalten, endet alles in Blut und Zerstรถrung. Gerade weil unsere Zivilisation so kompliziert ist und vielfรคltige Interessen aufeinander prallen. Die Griechen erfanden an der Stelle die Demokratie, um diese Interessen auszugleichen. Was sie noch nicht erfanden โ€“ und was in der Bergpredigt erstmals auftaucht โ€“ ist ein neuer, friedlicher Weg der Konfliktbeilegung. Denn wenn es diesen Jesus gab, dann wusste er genau, wie Eskalation funktioniert. Nรคmlich so wie bei Petrus, der unbedingt mit seinem Schwert herumfuchteln musste. Noch ein Schritt weiter, und es hรคtte auf dem ร–lberg ein ordentliches Gemetzel gegeben. Bibel lesen, dabei gewesen.

Aber unsere Politiker von heute lesen ja keine Bibel mehr. Die reden immer nur drรผber.

Im Wikipedia-Beitrag sind die drei Stufen der Eskalation alle fein sรคuberlich aufgelistet. Alles was vor der Verhaftung von Jesus passiert, gehรถrt zur Stufe 1: โ€žVerhรคrtung: Konflikte werden zunรคchst nicht wahrgenommen, danach verhรคrten sich die Standpunkte und Spannungen entstehen.โ€œ

HeiรŸt im Klartext: Er predigte schon in einer aufgeheizten Situation. Der Sanhedrin hatte sich in seiner Position eingemauert, die Rรถmer hatten sowieso Recht und die Macht sowieso, auf offenen Plรคtzen fielen die jรผdischen Streitparteien mit Worten รผbereinander her. Und die Sadduzรคer und noch ein paar andere Gruppen hatten fรผr sich lรคngst beschlossen, dass nur Gewalt die Lรถsung der aufgestauten Konflikte sein kรถnnte. โ€žEs kommt zu Handlungen mindestens einer Konfliktpartei, weil sie meint, dass Worte nicht mehr helfen.โ€œ Sie dรผrfen sich durchaus an die deutsche Gegenwart erinnert fรผhlen. Und nicht nur an die Krawallos aus dem โ€žSchwarzen Blockโ€œ.

Deutsche Konservative nehmen lรคngst dieselbe Haltung ein. Und sie fordern Handlungen.

Auch der Wikipedia-Beitrag weist darauf hin, dass die erste Stufe die einzige Stufe ist, auf er der Konflikt noch (friedlich) gelรถst werden kann. Nรคmlich indem man die Konflikte benennt, die Position des Anderen wahrnimmt und als Problem erst einmal akzeptiert. Wovon ja in den ganzen Forderungen der letzen Tage nichts zu hรถren war. Augenscheinlich sind unsere wichtigsten Entscheidungspositionen mit Leuten besetzt, die weder zuhรถren und verstehen wollen, noch kรถnnen.

Ergebnis: Mindestens die Sorgen einer Konfliktpartei bleiben unausgesprochen und unakzeptiert. โ€žDie wollen ja nur Krawallโ€œ, ist dann das Argument. Sie dรผrfen selbst nachschauen, wer das alles in den vergangenen Tagen behauptet hat.

Ergebnis: Wir sind auch รผber die zweite Eskalationsstufe schon lange hinaus. Was รผbrigens Teil unserer heutigen Politik und ihrer Darstellung ist. Denn die meisten โ€žWahlkรคmpfeโ€œ werden mittlerweile genau so inszeniert, dass sie eskalieren. Man begreift sie nicht als Weg einer Abbildung aller Gesellschaftsinteressen, sondern als anzustrebenden Sieg der einen Gruppe รผber die andere.

Logisch, dass bei so einer Haltung diejenigen gewinnen, die am aggressivsten auftreten und die wenigsten Skrupel haben, den politischen Gegner abzuwerten, zu erniedrigen und lรคcherlich zu machen. Wikipedia: โ€žWรคhrend der Frontenbildung werden Koalitionen gefunden, um die eigene Position zu stรคrken. Es geht nicht mehr um das Konfliktthema, sondern um den Sieg.โ€œ

Aber das ist, wie gesagt, schon Stufe zwei. Hier gibt es keine Win-win-Lรถsung mehr, sondern nur noch den Sieg einer Partei.

Ich erzรคhle jetzt nicht davon, was psychologisch in einer Gesellschaft passiert, in der sich die Mitglieder der anderen Partei immer wieder in der Verliererposition wiederfinden und auch so behandelt werden โ€“ verhรถhnt, abgewertet, ihre Vorschlรคge als lรคcherlich abgetan. Wetten, dass es in der Bundestagswahl genau so wieder munter zur Sache geht? Wahlen finden zumindest auf dieser Stufe noch eine โ€žLรถsungโ€œ.  Auch wenn es nur eine fรผr den Sieger ist.

Aber Hamburg und die vielen dusseligen Kommentare danach von Leuten, die glauben, dass es wieder Zahn-um-Zahn zugehen muss, zeigen, dass sich da etwas entfesselt hat. Dass eine Menge Leute einen Stopp der Eskalation auf Stufe zwei irgendwie langweilig finden und lieber Stufe 3 bevorzugen โ€“ so wie auch der Einsatzleiter der Polizei in Hamburg.

Herzlich willkommen im Jahr 2017 vor Christi.

In Stufe 3 verlieren nรคmlich immer beide. โ€žDer gegnerischen Konfliktpartei soll nun Schaden zugefรผgt werdenโ€œ, ist bei Wikipedia kurz und knapp zu lesen. In der Bibel sagt der alte Wรผstengott an der Stelle: โ€žDie Rache ist mein.โ€œ

Jesus sagt etwas anderes. Aber wie gesagt. Die meisten Leute stecken mental noch im Alten Testament fest. Irgendwo bei Sodom und Gomorrha. Und dann liest man die Statements der diversen Politiker insbesondere aus dem konservativen Lager. Und die Kommentare in einigen Zeitungen.

Und man sieht: Wir stecken (auch nach Hamburg) immer noch in Stufe 3 der Eskalation: โ€žVersuch der Zersplitterung der Koalitionspartner der gegnerischen Konfliktpartei, martialische Sprache taucht auf. Die totale Konfrontation lรคsst keine Rรผckzugsmรถglichkeit mehr zu.โ€œ

Eine Position, die keine Rรผckzugsmรถglichkeiten mehr lรคsst? Na herzlichen Glรผckwunsch. Und das passiert ganz natรผrlich. Das ist der Aufheizprozess, mit dem sich unsere steinzeitlichen Vorfahren ins Getรผmmel gestรผrzt haben. Wo am Ende nur รผberlebte, wer den Gegner vernichtete. Mir kann keiner einreden, dass das eine kluge Lรถsung fรผr die Gegenwart ist.

Eher sieht es so aus, dass eine Menge Leute lieber keine gemeinsamen Lรถsungen wollen. Schon gar nicht zuhรถren oder herausbekommen, was denn nun die Gegenseite eigentlich fรผr Sorgen und Wรผnsche hat. Oder gar fรผr Lรถsungsvorschlรคge. โ€žNull Toleranzโ€œ fordert Christian Hartmann, innenpolitischer Sprecher der sรคchsischen CDU-Fraktion. Null Toleranz: Das ist der alttestamentarische Wรผstengott, der Zรผrner, Droher und Vernichter. Der Bursche, dessen Priester und Propheten wahnsinnige Apokalypsen erfanden fรผr jede Stadt und jedes Volk, das sich nicht der einen und einzigen Glaubensmeinung fรผgte.

So eine Haltung schรผrt die Konflikte und drรคngt sie gleichzeitig in verbotene Rรคume ab. Und sie sorgt fรผr Eskalation, weil nun gleich, nachdem die Sache in Hamburg so grรผndlich aus dem Gleis gelaufen ist, neuer Druck gefordert wird, neue geharnischte MaรŸnahmen. Auch von hochbezahlten Zeitungskommentatoren, die an ihren sonntรคglichen Computern vom Leder gelassen haben, als wollten sie gleich mit dem Knรผppel auf die StraรŸe rennen.

Was man ja nur macht, wenn man die Anderen (egal, wer sie sind) nicht mehr als gleichwertig ansieht. (Stufe zwei: Herabsetzung der anderen Konfliktpartei). Was auch etwas mit dem Elitedenken in unserer Gesellschaft zu tun hat, dem Auf- und Abwerten ganzer Bevรถlkerungsgruppen (Mehr- und Minderleister, wie unsere ร–konomen so gern sagen).

Vielleicht sollten wir darรผber mal nachdenken. Etwas ausfรผhrlicher, als das vor und nach Hamburg geschehen ist.

Die Serie โ€žNachdenken รผber โ€ฆโ€œ

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Man muรŸ nicht nach Hamburg sehen. Die beschriebenen Eskalationsstufen finden sich seitens der Kommunen im Umgang mit den Naturschutzverbรคnden im Umwelt- und Naturschutz auch hier wieder. Nur daรŸ diese eben keine Barrikaden bauen. Was die Kommunen des sogenannten Grรผnen Rings (Leipzig voran) nicht daran hindert, sich gleichwohl so, wie im Artikel beschrieben, zu gebรคrden. Vereine oder einzelne Personen abzuwerten, Lรถsungsvorschlรคge ignoriert, Regeln ignoriert, genรผรŸlich die eigene Macht ausspielt.
Es gehรถrt beileibe keine ausgprรคgte Abstraktionsfรคhigkeit dazu, diese MaรŸstรคbe hier und in diesem Konflikt anzuwenden.

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