Gestern im Eurocity Verona – München: Die Temperaturen lungerten träge im Zweiraum-Wohnung-Hit-Bereich irgendwo um die 36 Grad-Marke, Gepäckstücke stapelten sich in den Gängen wie der schiefe Turm von Pisa. Auch olfaktorisch und sozial war jede Menge los. Die Mitreisenden allesamt schon anwesend, als man selber endlich dazuzustoßen wusste: ein paar Italiener, ein paar mehr Österreicher, die Deutschen nicht nur der Präsenzzahlen wegen schon wieder Weltmeister, sondern auch auf dem Gebiet der Platzreservierungen. So unvorbereitet wie in Stalingrad wollen wir schließlich nirgendwo mehr auffallen.
Allein wir hatten dies wieder einmal versemmelt. Eine Reservierung sei für diesen Zug kaum nötig, hatte mir die Bahnangestellte auf dem Bahnhof in Venedig freundlich lächelnd in ihrer klangvollen Muttersprache mitgeteilt. Vielleicht lag gerade darin das Problem. Oder man hatte ohnehin in der Serenissima ohnehin den Kanal voll und einfach Freude daran, all die lästigen Besucher ein bisschen zu veräppeln. Egal – Ursachenforschung war jetzt fehl am Platze. Genau wie wir.
Wir begannen also ergeben, an jedem Haltebahnhof die Reise nach Jerusalem zu spielen, immer dann den just mühsam ergatterten Sitz verlassend, wenn weitere Platzkarteninhaber mit einem Gesicht auf uns zusteuerten, als ginge mindestens die Schlacht bei Tannenberg auf ihr Konto, gleichzeitig unsicher suchend nach oben blickend, um die Sitznummern abzugleichen. Einer der grausamsten Momente einer Reise. Erfahrene Bahnfahrer wissen das.
Gerade als wir erneut für ein paar Minuten Unterschlupf gefunden hatten, stieg es ein: das schwäbische Gemächt. Um das Gemächt war ein Mann gebaut, der in einem Ganzkörperkondom-Radfahrer-Equipment steckte. Es hatte selbstredend ein Rad dabei, das draußen den etwa 1,70m großen, stramm muskulösen Körper im roten Radlerhosen-Bondage-Ensemble getragen hatte. Aus der roten Pelle schaute oben ein behelmter Kopf heraus, aus dem es umgehend schwer zu schwäbeln begann.
Missmutig hieß er die bereits Anwesenden ihre Gepäckstücke beiseite zu räumen, damit er sein Prachtstück – in diesem Falle das Rad – in die vorgesehene Halterung verbringen konnte. Bald darauf baumelte dieses im Fahrtwind, wie die Seele des gequetschten Schwabens es wohl noch nie vermocht hatte.
Nun aber schritt der Mann, der mindestens so gut in Form zu sein schien wie Brigitte Macron, der Mann, der mit allen digitalen Vermessungsgeräten geschmückt war – als gelte es hier eine EKG-Olympiade zu gewinnen – der Mann, der seit Tagen vermutlich stundenlang auf einem schmalen Sattel mit überhitztem Skrotum Südtirol bezwungen hatte, zur bewundernswerten Maßnahme, kraft seiner Platzreservierung ein älteres italienisches Paar aufzuscheuchen. Weil er die Frau, die schon etwas wackelig auf den Beinen war, den Platz räumen ließ.
„Good in shape“ hieß schließlich noch lange nicht, dass man seine körperliche Fitness fahrlässig für etwas Sinnvolles vergeuden sollte. Und hey: Man hatte schließlich reserviert. Vielleicht hatte der Mann ja beim Herzkreislauftraining immer nur Kreislauf trainiert.
Im Speisewagen, wo wir schließlich für die verbleibenden fünf Stunden der Reise zwangsläufig bei etwas Tafelspitz und Cappuccino bis zum Ende des Geldes verbrachten, servierte man uns überdies das Kontrastprogramm. Die Servicekraft, noch nicht alt, unscheinbare mittelblonde Kurzhaarfrisur, sehr füllig in einem weinroten, engen, kurzen Rock und einer weißen Bluse gewandet, war jemand, der für Trumpsche Maßstäbe vielleicht unsichtbar war. Für alle anderen jedoch das wohltuende Pflaster auf der Wunde, die eine Reise nun einmal auch zu schlagen imstande ist.
Freundlich, gelassen, vor allem aber verdammt rasch nahm sie die Bestellungen auf, brachte das Gewünschte, entschuldigte sich charmant für die eklatanten Unterschiede zwischen den auf der Speisekarte verzeichneten Verheißungen und dem Ist-Zustand an Bord.
Für jeden hatte sie ein paar individuelle Worte parat, die jenseits jeglicher Service-Textbausteinlandschaft angesiedelt waren, mit Kindern wurde geschmunzelt und gescherzt. Reisende, die wie wir offensichtlich ebenfalls bar eines Waggon-Sitzplatzes waren, wurden nicht nur geduldet, sondern genauso höflich behandelt wie jene, die vermutlich an der zusammengeschnurrten Speisekarte ihren Anteil hatten und sich nun bereits am 20. Bier festhielten, um die Wucht der überwältigenden Schönheit Südtirols verkraften zu können.
Kurzum: Die Rockträgerin in Weinrot war die runde Speerspitze, an der jeglicher Unmut im Handumdrehen abperlte, wenn er denn überhaupt erst aufkam. Gut in Form aber? Das war sie nicht. Sie war mehr. Sie war in menschlich bester Verfassung. Und sie gewann mit jeder Stunde, die man dort saß und das Treiben im Speisewagen beobachtete, an einer ganz eigenen Schönheit dazu.
Gut in Form sein. Was für einfallsloses Kompliment! Das einfallsloseste der Welt vielleicht.
Gut in Form sein ist vielleicht nur eine Frage des Lichts. Des Lichts, das ein Mensch in anderen zu entzünden vermag.
Trumps Kompliment für Brigitte Macron beweist dies in umgekehrter Manier:
Der Letzte macht das Licht aus.
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