Für FreikäuferNach der aufgelösten Autonomen-Demo am Donnerstagabend, den Blockadeversuchen am Freitag und den Krawallen in der Nacht zu Samstag stand am Wochenende die Großdemonstration gegen den G20-Gipfel als vermeintlicher Abschluss auf dem Programm. Etwa 75.000 Menschen aus vielen verschiedenen Spektren beteiligten sich daran. In der folgenden Nacht kam es erneut zur Randale. Unser Autor René Loch war vor Ort und hat Beobachtungen gemacht, die sich seitdem in der öffentlichen Diskussion nur unzureichend wiederfinden.

Nach den Krawallen in der Nacht von Freitag zu Samstag war unklar, wie sich diese Ereignisse auf die Großdemonstration unter dem Motto „Grenzenlose Solidarität statt G20“ auswirken würden. Insbesondere das Wort „Solidarität“ war nun in einen Fokus gerückt, der vorher nicht zwangsläufig zu erwarten war. Der konservative Journalist Jan Fleischhauer beispielsweise behauptete auf Twitter, dass es „ganz einfach“ sei: „Wer am Samstag gegen G20 auf die Straße geht, solidarisiert sich mit dem Mob.“

Etwa 75.000 Menschen solidarisierten sich – sofern man Fleischhauers Aussage folgen mag – tatsächlich mit dem Mob. Die Teilnehmerzahl lag damit über den im Vorfeld genannten Erwartungen. Zwar kursierte immer mal wieder eine sechsstellige Zahl, doch die Veranstalter hatten offiziell auf etwa 50.000 Personen gehofft.

Diese kamen aus ganz verschiedenen Milieus und sehr unterschiedlichen Gründen zu der Demonstration. Dass auch Personen dabei waren, die in der Nacht zuvor randaliert hatten, ist nicht auszuschließen. Falls dem so war, dann war ihre Anzahl jedoch verschwindend gering. Es waren Parteien wie die Linke, die Piraten oder die MLPD ebenso vertreten wie ein Jugendblock oder ein kommunistischer Block. Mehrere hundert Kurden und Aleviten waren ebenfalls auf der Demonstration erschienen.

Der Protest der Menschenmengen richtete sich im Kern gegen die G20 und im Speziellen gegen Kapitalismus, Ausbeutung, Unterdrückung, Abschottung, die Leugnung des Klimawandels und weitere Themen. Zu sehen waren auch fragwürdige Gruppen beziehungsweise Botschaften, darunter ein Schild mit der von Pegida-Demos bekannten Aufschrift „Ami Go Home“, ein antisemitisch konnotierter Riesenkraken oder Werbung für die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS. Auf einem Banner wurden mehrere G20-Teilnehmer als menschlicher Müll dargestellt, der in einem Papierkorb entsorgt wurde.

Nach dem Abschluss der Demonstration, die fließend in ein Open-Air-Konzert überging, kam es noch zu einer bemerkenswerten Szene. Zunächst schien es auf eine erneute Eskalation zwischen Gipfelgegnern und Polizisten hinauszulaufen, als letztere in voller Montur durch die Massen liefen und lautstark zum Weggehen aufgefordert wurden. Dann setzten sich mehrere hundert Menschen vor eine Polizeikette, hinter der zudem ein Wasserwerfer bereit stand. Eine halbe Stunde später hatte sich die Situation gedreht: Die Beamten nahmen ihre Helme – wie von der Masse mehrmals gewünscht – ab, erhielten dafür Beifall und „Wir sind friedlich und ihr auch“-Rufe.

Eine Polizistin verschenkte Wasser und erhielt im Gegenzug etwas zu essen. Ein Kollege umarmte einen Demonstranten. In den meisten Gesichtern war so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Es hätte ein versöhnlicher Abschluss werden können.

Doch wenige Stunden später waren die Wasserwerfer wieder in Aktion. Anders als in der Nacht zuvor hielt sich die Polizei diesmal nicht zurück, sondern zog bereits nach den ersten Würfen mit Flaschen und Steinen in das Schanzenviertel hinein. Dabei geriet sie sowohl mit Journalisten aneinander als auch mit unzähligen Gaffern. Es war eine chaotische Situation, in der nur schwer zu erkennen war, wer aus welchem Grund welche Absichten verfolgte.

Jene, die die Auseinandersetzung mit der Polizei suchten, waren bei Weitem nicht nur autonome Kleingruppen. Es waren auch Hooligans, Partygänger, frustrierte Jugendliche, Betrunkene und andere Gewaltsuchende unterwegs. In den Forderungen vieler Politiker findet sich dieses differenzierte Bild aber leider kaum wieder.

Bis weit in die Nacht lieferten sich Polizei und Randalierer ein Katz- und Mausspiel. Immer wieder tauchten irgendwo kleine oder große Gruppen auf und wurden von der Polizei zerstreut. Deren Wasserwerfer waren an vielen verschiedenen Orten zu sehen. Teilweise setzten die Beamten auch Tränengas ein. Da die Beamten zwischen Angreifern, Beobachtern, Feiernden und Journalisten keinen Unterschied mehr machen konnten oder wollten, wurden auch Unbeteiligte beziehungsweise Unschuldige in die Hetzjagden hineingezogen.

Nach einem massiven Tränengasbeschuss und der Flucht durch verschiedene Hinterhöfe und Straßen stellte der Autor dieser Zeilen die Beobachtungen gegen 3 Uhr nachts ein. Welche Diskussionen und Forderungen, darunter der Abriss der Roten Flora und ein lebenslanges Demoverbot, in den kommenden Tagen folgen sollten, war in diesem Moment nicht absehbar.

G20-Tagebuch (2): Freitag – In blaue Zonen und über rote Linien + Bildergalerie

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