Potsdamer Hauptbahnhof, ein Samstagabend im Mai: Die Sonne ging zu Ehren des Alten Fritz und Wolfgang Joops form- und farbschönst unter, viel Jugend mit Flaschen in den Händen hatte sich in kleinen Trüppchen zusammengefunden, um fröhlich ins Nachtleben Berlins hinüberzulärmen, einzelne ältere Herren in Jackett und Cordhose führten ihre Süddeutsche noch mal vor dem Abendbrot spazieren. Frauentrauben in Turnhosen und identischen T-Shirts des AVON-Frauenlaufs kicherten ausgelassen und zu Recht glücklich, während sie mit dem Bahnpersonal ihrer Regionalbahn entgegenscherzten.
Bald würden sie wieder bei ihren Familien in kleinen Orten des geheimnisvollen Brandenburgs sein. Ich wandelte zufrieden durch dieses idyllische Stück Volkstheater – in dem behaglichen Bewusstsein, während der vergangenen Stunden ein ganz hübsches Interview in den Kasten bugsiert zu haben und nun meinen Heimweg durch Kiefernwald, Fläming und Wittenberg in Richtung Leipzig antreten zu können. Alles war im Fluss, alles war halbwegs prima, alles war auf Wochenende gepolt – bis mich ein Sicherheitsmann von dieser Bühne riss, indem er mich über meine rechte Schulter hinweg informierte: „Sie, nur dass Sie es wissen, Ihre Hose ist hinten kaputt. Meinetwegen müssense nüscht machen, mir jefällts, aber Ihnen vielleicht nich.“
In der Tat: Das gefiel mir nich. Mich in einer Schaufensterscheibe KAUFLANDs spiegelnd, stellte ich zunächst sicher, dass ich kein Opfer einer perfiden Attacke Potsdamer Wachleute-Humors geworden war. War ich nicht. In meiner Hose klaffte ein Riss, der den Namen Claudia-Schmutzler-Go-Trabi-go-Gedächtnis-Riss verdient hatte. Für einen Trabi, der mich jetzt rettend aufzusammeln imstande gewesen wäre, hätte ich jetzt in meiner misslichen Lage rückwirkend mein ganzes Begrüßungsgeld gegeben. Allein, es gab keine Rettung. Ich war preisgegeben. Der Welt zum Fraße oder zumindest zum Spott vorgeworfen.
Wie rasch doch unsere Grundfesten ins Wanken geraten können: eben noch der stolz herumschreitende Amateurpfau, im nächsten Augenblick der bejammernswerte Rest eines Menschen, der im Coolness-Ranking irgendwo zwischen einem Rucksackträger und einer Küchenschabe rangiert. Gerade warst du noch der beklatschte Martin Schulz, jetzt bist du die größte Witzfigur der SPD seit Ulla Schmidt. Willkommen in der Realität: Fragil ist unser Leben, fragil die Welt.
Wie von Sinnen kramte ich in meiner Handtasche, die sich mit allerlei typischen Frauenzeugs bereits alarmierend beulte. Man kann schließlich nicht unvorbereitet und ohne Sicherheitsvorkehrungen einen Nachmittag lang verreisen. Wenn es sich bei Frauen in der Handtasche beult, ist alles in Ordnung. Manche Frauen sind ja immer mit so kleinen taschenähnlichen Behältnissen in der Armbeuge unterwegs, da weiß ich nicht genau, was da drinnen ist. Also in der Handtasche.
Ich habe lieber mein ganzes Leben in komprimierter Form dabei. Schminktäschchen, gebrauchte Taschentücher, Notizbücher, Wechsel-T-Shirt, den gesamten Goethe (Hamburger Ausgabe), ausgekippte Hustenbonbons vom letzten Jahr, die sich zu erstaunlichsten kleinen kristallinen Formationen zusammenzurotten vermögen, Haargummis in den Tönen, die der Augenfarbe des Liebsten ähneln, feuchte Tücher, das gerade zu lesende Buch, einen Apfel, das Buch, das man auf Seite 5 abgebrochen hat, eine Tafel Schweizer Schokolade, einen Kuli, der geht, zwei, die nicht mehr gehen, Aufladegeräte, einen monströsen Kabelsalat von Ear-Phones, die früher Kopfhörer hießen, die Post, die man mittags noch schnell aus dem Briefkasten gefischt hat, vier Kilo der ZEIT und das sich gerade in die Handtasche ergossen habende Kellnerportemonnaie mit dem Inhalt einer süditalienischen Dorfsparkasse.
All das knapp neben dem Schlüsselbund, der mich als Aufschließer einer sächsischen Justizvollzugsanstalt ausweisen könnte.
Zu blöd nur: An eine Ersatzhose hatte ich nicht gedacht.
Es war also, wie es war. Auf dem Berliner Hauptbahnhof stand ich leicht psychopathisch blickend, erstarrt für eine halbe Stunde an eine Mauer gepresst herum. Endlich konnte ich mein interkulturelles Wissen einsetzen: Wer in Berlin leicht psychopathisch wirkt, fällt wenig auf.
Wenn ich ein paar Meter gehen musste, spannte ich meine Handtasche – den notorischen Freitags-Taschenträger nachahmend – wie einen Sicherheitsgurt quer über den Leib, so dass der Ledercorpus meinen Gluteus Maxismus bedeckte. Anfangs blieb ich immer mal wieder harmlos umherschauend unvermittelt stehen, um Passanten an mir vorbeiziehen zu lassen, so dass ich das Schlusslicht jeglichen Reiserudels bilden konnte. Dies erwies sich allerdings alsbald als zu auffällig. Argwöhnisch betrachteten mich die Menschen dann von oben bis unten, wie mir schien.
Das ging im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Ich schaffte es in den Zug, wo ich wie angewurzelt sitzen blieb, bis endlich der Ruf des Zugbegleiters in zwei schwer verständlichen Sprachen das Erreichen des Reiseziels verkündete.
Auf dem Bahnsteig in Leipzig riss mir mit großem Getöse der Taschengurt. Zu schwer war ihm seine Verantwortung wohl gewesen. Man kann sich vorstellen, dass das die Situation nicht wesentlich erleichterte.
Sollte mich gestern Abend irgendwer gesehen haben: Bitte hüllt wenigstens den Mantel des Schweigens darüber. Jenen Mantel, den ich gern bei der Hand gehabt hätte, um mich so sicher wie der von Christo eingepackte Reichstag zu fühlen.
Zwei Dinge aber lernen wir daraus:
Erstens: Jeden Abend die Cellulite in kreisenden Bewegungen in den Griff zu bürsten, kann sich eines Tages auszahlen.
Zweitens: Ein vollständiges Rundum-Sicherheits-Konzept scheint es für niemanden zu geben auf dieser Welt. Hüte man sich ein bisschen vor denen, die so etwas allzu leichtfertig versprechen – ignorierend, dass längst ein Riss durch die Gesellschaft geht.
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