Am Mittwoch, 17. Mai, gab es im Sächsischen Landtag wieder mal eine dieser aktuellen Stunden, bei denen man sich fragt: Wer will hier eigentlich wen auf den Arm nehmen? Die Fraktionen von CDU und SPD hatten sie beantragt: „Dem Volk aufs Maul schauen – Luther heute – Kennen und Leben christlicher Werte in heutiger Zeit“. Warum sich ein Landtag mit christlichen Werten beschäftigen muss, erschließt sich auch nach 27 Jahren CDU-Regierung nicht. Und geht am Thema vorbei, wie Franziska Schubert feststellt.

Sie ist Landtagsabgeordnete der Grünen, religionspolitische Sprecherin der Fraktion, Sprecherin für die sorbischen Angelegenheiten und auch noch bekennende Katholikin. Sie weiß also, worüber sie redet. Und augenscheinlich kennt sie ihren Luther besser als die christlichen Moralprediger auf der Regierungsbank. Denn mit Populismus hat Luthers „dem Volk aufs Maul schauen“ wirklich nichts zu tun. In ihrer Landtagsrede besorgte Franziska Schubert ein Stück weit Aufklärungsarbeit für die Volkspolitiker.

„… das überstrapazierte ‚dem Volk aufs Maul schauen‘ im Debattentitel ist ein Beispiel für reine Beliebigkeit. Es wird immer, immer aus dem Zusammenhang herausgerissen. Es ging Luther lediglich um den Grundsatz der Verständlichkeit beim Übersetzen der Bibel, als er im ‚Sendbrief vom Dolmetschen (1530)‘ sagte: ‚(…) man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen‘.“

Heute würde dies ohne weiteres auf die Politik übertragen, so Schubert. Man solle dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Munde reden. „Eine Allerweltsweisheit, die mit Luther nicht mehr viel zu tun hat und ihm auch nicht gerecht wird. An Jubiläen falsche Zitate in den falschen Kontext zu setzen, ist eben nicht Aktualisierung, sondern es ist Banalisierung. Jener Luther auf dem Sockel hat uns weniger zu sagen als der Luther, den jede und jeder sich aus dem historischen Kontext erschließen kann, um beispielsweise darüber nachzudenken, was Gewissensfreiheit heißt – Gewissensfreiheit – ein mächtiges Wort, ein mächtiger Orientierungspunkt.“

Das mit der Gewissensfreiheit ist ja bekanntlich so ein kleines Problem in christlichen Parteien. Würden die großen Denker nur ein wenig nachdenken darüber, gäbe es wohl nicht aller Nase lang die Krücke „Leitkultur“. Die immer aus dem Schrank geholt wird, wenn man versucht, den Bürgern die christliche Religion als den Kitt einzureden, der Europa zusammenhält. Nichts ist trügerischer als das. Und es verkennt sogar völlig, was Luther da eigentlich bewirkt hat.

Aus Franziska Schuberts Rede: „Der dritte Teil des Titels dieser Aktuellen Debatte ‚Kennen und leben christlicher Werte in unserer Zeit?‘ ist von der Koalition tatsächlich mit einem Fragezeichen versehen worden. Was ist eigentlich die Frage? Wir können darüber debattieren, inwiefern es Aufgabe der Politik im säkularen Staat ist, christliche Werte zu postulieren. Ich halte das für bedenklich. Denn Staatsreligionen neigen dazu, politisch instrumentalisiert zu werden. Man muss sich nur mal umschauen auf der Welt.“

Und fertig ist sie an dieser Stelle noch nicht. Das christliche Handeln selbst ist, auch in der Politik, wenn überhaupt, dann eben „nur“ Handlungsmaxime. Auch, wenn es um Flüchtlinge geht. „Wer meint, politisches Handeln auf eine christliche Letztbegründung zurückführen zu müssen, halte sich an den Satz ‚Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Ein Nachdenken über die eigene Haltung − jeden Tag aufs Neue, die eigene Ethik in den letzten zwei Jahren in Sachsen ist das, was Luther in uns auslösen sollte, wenn wir uns mit seinen Kernthesen tatsächlich ehrlich auseinandersetzen wollen. Es ist im Übrigen kein christliches Alleinstellungsmerkmal, keine ausschließlich christliche Haltung, wie sich Schwachen und Fremden gegenüber zu verhalten ist. Dieses ethische Fundament lässt sich aus allen Weltreligionen heraus begründen – und auch aus einer humanistischen Haltung, die nicht immer dezidiert religiös begründet sein muss.“

Das sollte uns anhalten, uns mal wieder die Bergpredigt vorzunehmen – gerne in der Übersetzung Martin Luthers! Was ist dort zu sehen? Eine ziemlich radikale Ansage an die Einzelnen, aber kein politisches Handbuch, kein Wertekanon für eine Mehrheitsgesellschaft und schon gar keine Beschreibung einer wie auch immer gearteten ‚Leitkultur‘. Ich möchte mit der Bergpredigt enden, die ich an dieser Stelle gerne in der Fassung der ‚Lutherbibel 2017‘ zitiere: ‚Habt aber acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.“

Und weil diese Passage aus ihrer Rede fast eine Überleitung ist, zitieren wir auch noch Sarah Buddeberg, die gleichstellungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, die daran erinnert, dass unser heutiges republikanisches Fundament eben nicht auf der Bibel aufbaut, sondern auf Aufklärung und Humanismus: „Die CDU/SPD-Koalition wünschte sich eine Aktuelle Debatte zu Luther. Ja, die Wertediskussion ist in Sachsen wichtig, das zeigen Beispiele wie Clausnitz, Bautzen, Freital. ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‘ – Goethe heute – Kennen und leben humanistischer Werte in unserer Zeit? – so könnte man die Debatte auch betiteln.“

So wurde die Debatte aber nicht betitelt. Womit das christliche Mäntelchen wieder einmal als das ausgestellt wurde, was es in der Politik fast immer ist: eine Bedeckung für lauter kleine Selbstgerechtigkeiten, die mit Humanismus und Nächstenliebe eigentlich nichts zu tun haben.

Ob das das Abbaggern sächsischer Dörfer betrifft, Abschiebungen von Flüchtlingen, Nichtgewähren von Lärmschutz an Flughäfen oder Nichtermittlungen im rechtsradikalen Milieu. Immer da, wo wirklich lutherscher Geist verlangt wird, so ein richtiges „Hier stehe ich!“, da wird gekniffen.

Und hinterher setzt man die christliche Schafsmiene auf. Luther hätte dazu eine sehr flammende Rede gehalten, das ist mal sicher.

500 Jahre Reformation wird 2017 auch in Leipzig begangen. Der Höhepunkt ist der „Kirchentag auf dem Weg“, welchen von Donnerstag, den 25. Mai, bis Samstag, den 28. Mai 2017 insgesamt acht deutsche Städte gemeinsam erleben.

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“Ob das das Abbaggern sächsischer Dörfer betrifft, Abschiebungen von Flüchtlingen, Nichtgewähren von Lärmschutz an Flughäfen oder Nichtermittlungen im rechtsradikalen Milieu.”
Die Liste läßt sich ergänzen durch Maximalverwertung:
– von Menschen durch prekäre Arbeitsverhältnisse, wie Leiharbeit und Werkverträge, geringfügige Beschäftigung insbesondere auch in Behörden und an Hochschulen
– Gewässerausbau und damit Naturvernichtung für eine motorisierte Gewässernutzung
– von Kohleverbrennung und Klimawandel ganz zu schweigen

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