Da waren nicht nur Leute zwischen 55 und 65 etwas verstört, als sie vom Amt für Statistik und Wahlen einen Fragebogen zugesandt bekamen: „Älter werden in Leipzig.“ Logische Reaktion: Anrufe im Amt und die berechtigte Feststellung: „Wir sind doch noch nicht alt. Und wir wollen uns auch nicht zur Ruhe setzen.“ – „Macht nichts“, war die Antwort.

Das Ergebnis liegt jetzt in gedruckter Form vor: eine ganz spezielle Befragung der Leipzigerinnen und Leipziger zwischen 55 und 85 Jahren: „Älter werden in Leipzig 2016“. Die Befragung der älteren Leipziger ist quasi die Evaluierung zum letzten Altenhilfeplan. Seit 2010 hat die Stadt die Senioren der Stadt im Fokus. Nicht ganz zufällig. Dahinter steckt ein Stadtratsbeschluss. Denn die Stadträte haben sehr wohl mitbekommen, wie stark die Zahl der Senioren in Leipzig wächst. Rund 180.000 Personen zählen dazu, rund 13.000 davon im Hochbetagtenalter jenseits der 85 und deshalb auch nicht mehr Teil der Befragung.

Denn im Pflegeheim denkt man nicht mehr wirklich viel über Ehrenamt, Freizeitaktivitäten und barrierefreien ÖPNV nach.

Aber darum geht es: Um die Frage, was eine Stadt wie Leipzig eigentlich tun kann, damit auch ältere Mitbürger ihr Leben selbstbestimmt gestalten können und gesellschaftlich teilhaben können. Erst recht, wenn immer mehr Leipziger immer älter werden.

Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst wertet die Ergebnisse der Befragung als eine gute Grundlage, um Angebote für Senioren weiterzuentwickeln: „Die Wünsche der Befragten bestätigen die bestehenden Handlungsschwerpunkte der Stadt Leipzig. Dazu gehören preiswerter und altersgerechter Wohnraum, barrierefreie öffentliche Verkehrsmittel und Angebote für einkommensschwächere ältere Menschen.“

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Befragung, an der sich über 5.000 ältere Leipziger beteiligten, ist: Sie wollen gar nicht ins Pflegeheim (auch wenn das so nicht gefragt war), sie wollen auch nicht ständig bemuddelt werden, sondern ihr Leben so lange wie möglich so frei und selbstbestimmt wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld verbringen.

Selbstbestimmt bis 100

Gerade bei der Frage nach der Barrierefreiheit der Wohnung wurde das sichtbar. Nur 4 Prozent der befragten Leipziger verfügen tatsächlich über eine Wohnung, die alle Kriterien der Barrierefreiheit erfüllt. Aber 81 Prozent antworteten mit ziemlich viel Selbstbewusstsein, dass sie gar keine barrierefreie Wohnung brauchen oder suchen oder jetzt noch nicht suchen. Das liegt wohl auch, so vermutet Kerstin Motzer, Seniorenbeauftragte der Stadt, daran, dass diesen Menschen ihr gewohntes Lebensumfeld wichtiger ist. Sie tun lieber alles, um mögliche körperliche Gebrechen so weit wie möglich zu kompensieren und in ihrer Wohnung zu bleiben. Was eben auch oft bedeutet: unter Menschen und Nachbarn, die ihnen vertraut sind.

Da scheint die staatliche Fürsorglichkeit oft genug fehl am Platz. Menschen wollen auch im höheren Alter selbstbestimmt leben und möglichst viele Dinge selber tun. Wichtig ist ihnen vor allem, dass alle Dinge, die sie brauchen, auch im Wohnviertel zu finden sind – vom Arzt (91 Prozent) über den Supermarkt (91 Prozent) bis zu Sportangeboten (78 Prozent) und Bildungsangeboten wie Bibliotheken (68 Prozent).

Und die städtischen Statistiker wollten natürlich gern wissen, wie die seit 2013 eingerichteten Seniorenbüros genutzt werden – oder warum die Älteren da nicht hingehen.

Wer älter ist, ist noch lange nicht alt

Und da kam der nächste Zipfel echten irdischen Lebens zum Vorschein: 55 Prozent der Befragten sagten, dass sie sich noch nicht alt genug dafür fühlten, ein Seniorenangebot wahrzunehmen. Bei den 55- bis 65-Jährigen waren das logischerweise sogar 75 Prozent, aber auch bei den 65- bis 75-Jährigen sagten das 56 Prozent.

So deutlich bekommt die Stadt reflektiert, dass Älterwerden in Leipzig noch lange nicht bedeutet, dass man dadurch alt oder gar zum Greis wird. Im Gegenteil: Die meisten Älteren äußern deutliche Wünsche nach geselligem Kontakt, nach Teilhabe und Tätigsein. Die Jüngeren freuen sich regelrecht auf die Zeit, in der sie endlich mal mehr Zeit haben.

Was nicht heißt, dass sie dann welche haben. Selbst 24 Prozent der 65- bis 74-Jährigen sagen, dass sie keine Zeit haben.

Die Sorgen um die Welt hören nicht auf

Und noch ein dritter Zipfel Wirklichkeit strahlt auf, der ein altes Vorurteil über die Älteren konterkariert: Die Älteren machen sich nicht nur über Kriminalität und Sicherheit Sorgen (16 Prozent), sondern auch über die „allgemeine politische Lage“ (13 Prozent). Ihnen ist ganz und gar nicht gleichgültig, was aus der Welt der Kinder und der Enkel einmal wird.

Im Grunde bestätigt die Umfrage etwas ganz Grundlegendes: Ältere Menschen in Leipzig wollen nicht irgendwo ins ruhige Abseits verfrachtet werden, sondern mit allen Möglichkeiten am Leben teilnehmen.

Was aber auch bedeutet, dass die Stadt, wo sie kann, ihre Sorgen ernst nimmt und die Bedingungen schafft, dass eine barrierefreie Teilhabe für alle möglich ist.

Und das trifft sich mit vielen Handlungsfeldern, die auch die jungen Generationen umtreiben und aufregen.

91 Prozent der Senioren wünschen sich, dass sich die Stadt um preiswerten Wohnraum bemüht.

91 Prozent wollen (mehr) Barrierefreiheit im ÖPNV.

89 Prozent wünschen sich barrierefreie Wohnungen.

Die Statistik ist mit Vorsicht zu genießen, denn die diversen Wünsche vom Hausarzt bis zum lebenslangen Lernen hatte die Stadt vorgegeben. Sie durften dann von „wichtig“ bis „unwichtig“ angekreuzt werden. Insbesondere im Seniorenbeirat habe man sich Gedanken über die Fragen gemacht, betont Kerstin Motzer.

Das Bild, das man bekommt, ist das Bild einer Stadt, die Barrierefreiheit für alle ihre Bewohner zum Standard machen muss und in der zumindest die Älteren bis 85 höchsten Wert darauf legen, dass sie noch mit allen Kräften am Leben, an Kultur und Bildung teilhaben können. Und die lieber einen Rollator bestellen, als sich den ganzen Tag von Pflegekräften bemuddeln zu lassen.

Einige Fragen, die unsereiner gern beantwortet bekommen hätte, wurden leider nicht gestellt. Zum Beispiel die zur Erwerbstätigkeit der über 65-Jährigen. Die kommt zwar beiläufig vor – aber die Nebentätigkeiten, mit denen viele Ältere ihre Rente aufbessern, wurden nicht abgefragt. Und abgefragt wurde auch nur beiläufig die politische Interessiertheit. Denn alle Wahlen zeigen ja, dass gerade die Senioren in Leipzig Wahlen dominieren. Da hätte man schon gern erfahren, mit welcher Intention sie das tun – ob sie damit vor allem ihre eigenen Interessen vertreten (was ja legitim ist), oder auch die Interessen der Kinder und Enkel mitdenken. Eine schwierige Frage.

Aber irgendwie kommt man daran nicht vorbei, wenn man hier nachlesen kann, mit welcher Konsequenz Leipzigs Seniorinnen und Senioren ihren Gestaltungsanspruch auch im hohen Alter bewahren und leben wollen.

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