Am 30. April wird ja nicht nur in den Mai getanzt, sondern es jährt sich bekanntlich zum 72. Mal der Tag, an dem sich des SPIEGELS beliebtestes Covergirl, Adolf Hitler, über die Wupper gemacht hat. Doch das moderne Liedgut weiß es längst: Wenn man tanzt, ist man woanders, für den Moment. Ich frag mich dann manchmal, wie’s gelaufen wär, ohne Hitler ... Dabei ist die Frage relativ schnell zu beantworten: Die Welt wäre nicht um alle, aber viele Millionen furchtbarer Schicksale ärmer. Um Millionen Hitler-Vergleiche allerdings auch.
Ich möchte mich natürlich nicht eines Geschichtsrevisionismus’ verdächtig machen, das wäre ja so was von AfD, dass es einem schlecht würde. Doch um einen Gedanken kommt man nicht herum: Es ist, als ob wir diesen Herrn aus Braunau am Inn auch so lange nach dessen Suizid am ersten Tag seiner Flitterwochen noch immer bräuchten.
Hitler als Gruselclown, auf den sich allerlei projizieren lässt, was sich noch immer schlecht erschließt. Hitler als Type für Erklärungen, die den Faschismus auf eine Person reduzieren, weil das immer irgendwie gut ist fürs kollektive Gewissen. Hitler hier, Hitler da, auf keinen Fall auf Industriellen, Kapitalismus oder Militär herumreiten, schon gar nicht auf Klein- und Kleinstmitläufern. Hitler als Witzfigur auf einem penetranten Hitler-Bärtchen-Cover, mit der sich – 77 Jahre nach Chaplins nicht zu übertreffenden „Great Dictator“ – der Einzelhandel zwei Weihnachten lang mit der überraschend unüberraschenden Hitler-Satire „Er ist wieder da“ das Fest vergolden konnte.
Nur zur Klarheit: Ich halte das Schreiben einer Hitlersatire für besonders mutig:
Es muss fast als Chuzpe bezeichnet werden, mit der Figur des Bärtchenträgers aus dem Nachbarland heute noch Aufmerksamkeit erzielen zu wollen. Dass man nach all den Sommerloch-Stopf-Versuchen der BILD („Hitler hatte nur ein Ei!“) und dem Lebenswerk Guido Knopps immer noch darauf zu vertrauen imstande ist, als Hitlers (little) Helper dem Erfolg hinterhermarschieren zu können. Das nötigt einem zugebenermaßen eine gewisse Achtung ab. Zumal es ja auch geklappt hat.
Ratlos lässt einen das alles dennoch zurück: Die Geschichte hätte soooooo viel hergegeben für einen eigenen, einen wirklich originellen Einfall, an dem man sich auf fast 400 Seiten hätte abarbeiten können!
Aus dem Stegreif werfen sich einem doch die Ideen an den Hals – zu diesem zweifelsohne immer wieder anregenden „Was wäre geschehen, wenn …“-Szenario:
– Pontius Pilatus wäscht sich die Hände nicht
– Martin Luther wird in den Zwanzigern des 16. Jahrhunderts auf dem Scheiterhaufen verbrannt
– Ludwig XIV. verlegt Perücke
– Deutschland verliert Schlacht bei Tannenberg
– Die Schweiz lockert 1942 ihre Flüchtlingspolitik für bedrohte Juden
– Stauffenberg hat beide Hände voll zu tun
– Pizarro findet in Peru keine Kartoffeln
Doch Schluss damit! Wir Menschen sind so gepolt: Etwas Böses braucht der Mensch eben. Aber es gibt so viele andere Arschgeigen, an denen man sich reiben kann.
Aber weil dies ein ekliges sprachliches Bild ist, sag ich es anders: Wir haben nicht nur Hitler für Vergleiche, wir haben nicht nur das Dritte Reich und die DDR für Systemkritik, weil es beide nicht mehr gibt. Wir können auch nicht rückwärts Zivilcourage fordern, wenn uns hier nicht mal einfällt, wo wir mit unserer hin sollen.
Ich glaube, das offensichtlich Böse ist das eine. Das versteckte Böse ist das andere: Denn so lange gilt, dass man etwas nicht kritisiert, was einen ernährt, ist das letztgenannte der fast größere Schrecken.
Mal sehen, wann das mal auf die Titelseiten kommt.
Schönen ersten Mai!
In eigener Sache
In eigener Sache (Stand Mai 2017): 450 Freikäufer und weiter gehts
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