Vorm Fenster ist ja gerade sowas von akuter Frühling, aber hallo. Es gibt Licht. Es grünt auf verführerische, es blüht auf wunderschöne Weise allerorten. Ich genieße das. Wie ferngesteuert lässt man den Abwasch stehen und liegen, alles andere auch, schnappt sich das Kind, eine Zeitung und das Fahrrad und ab geht’s in den frühlingstrunkenen Park. Einen Park, der die ehrgeizige Kulisse abzugeben scheint für ein Wochenende, an dem Kinder gemacht werden wollen.
So viele wundervolle Szenen auf den Alleen: Er hält sie zurück, dreht sie um und beginnt eine wilde Knutscherei. Drei Schritte weiter wird auf einer Parkbank übermütig ein noch bestiefeltes Bein nach oben gereckt und gekichert. Auch hinterm Spielplatzgebüsch wird verzweifelt geküsst … Es ist herrlich. Ich denke an wenig bis nichts, Entgegenkommende strahlen einen an. Ich sowieso.
Fremde Männer kaufen dem Kind und mir ungefragt eine Caprisonne. Der Mitmensch erscheint ungewohnt gelöst und erfüllt. Lächelt mitunter sogar. Die Blüten prosperieren als würden sie dafür bezahlt und man selbst denkt sich so, dass es den Leuten in diesen Gefilden vor siebzig Jahren im April vielleicht in mancher Hinsicht ganz ähnlich erging und doch so ganz anders. Denn wenn man nach Hause will heute, dann findet man das in aller Regel auch noch vor. Und hält dies dummerweise auch noch für selbstverständlich.
Die Sonne geht rotgolden unter. Sehnsucht tut dann so angenehm weh. Man liebt das Leben. Und trotzdem frag ich mich immer wieder zwischendurch, ob man das angesichts alles Wissens über das Unglück anderer, das man tagtäglich injiziert bekommt, überhaupt darf? Vieles, was in der Welt passiert, lässt sich schließlich nicht einfach unterm Magnolienstrauch vergessen oder mittels einer Extra-Portion fernöstlicher Entspannungsmethoden wegatmen. Manch Leid anderer Menschen erreicht einen dann doch. Man verfolgt dies mit Interesse und Mitgefühl, oft auch mit einer gewissen Ratlosigkeit. Demut auch. Demut, dass man bisher eher zu den Happy People und nicht zu den Boat People gehörte.
Komischerweise kommt mir angesichts solcherlei – immer mal wiederkehrender – Gedanken das nahende Osterfest in den Sinn, das mir jenseits aller todsterbenslangweiliger und plumpen Eiersuchscherze zeitgemäßer denn je vorkommt.
Mehr noch: Je mehr ich über Ostern nachdenke, desto weniger anachronistisch erscheint es mir. Das muss verwundern: Eine überlieferte Geschichte, in der jemand seltsam uneigennützig den ganzen Mist auf sich nimmt, den andere schon verzapft haben (und noch reichlich verzapfen werden), der nicht mal was aushandelt zu seinen Gunsten, obwohl wohl wissend, dass er die Grabstelle nur für drei Tage brauchen wird und nichts und niemandem etwas übelnimmt …, diese Story scheint nicht das dringendste Desiderat dieser Tage zu sein.
Und doch sage ich: Sie ist es. Mehr denn je. Weil sie die Metapher schlechthin sein könnte, für unser augenblickliches Leben 2.0 oder 3.0 oder was auch immer man zur Zukunft auch sagen will. Weil Figuren dranhängen, die wir – auch heute noch – jeden Tag treffen. Hat nicht fast jeder von uns zum Beispiel irgendwo einen Pontius Pilatus sitzen, dem gerade zur Maniküre eine Schale gereicht und Alarmierendes über uns mitgeteilt wird? Der uns aber desinteressiert – seiner gegenwärtigen Wellness-Eingebundenheit wegen – gelangweilt ans Messer liefert, vorher noch einmal seine Hände in der Marke „Unschuld“ badend?
Hat nicht jeder irgendwo einen ungläubigen Thomas um sich herumschwirren, der erst gewillt ist, den Dingen Glauben zu schenken, wenn er mal konkret und in Farbe hingelangt hat?
Manchmal möchte man verzweifeln. Nicht über den schwindenden Einfluss des lieben Gotts und vor allem dessen Bodenpersonals in unserer Gesellschaft im engeren Sinn, aber über die Tendenz, dass der Mitmensch kaum noch gewillt ist, darüber nachzudenken, dass es etwas geben könnte, das größer als unser kleines Dasein ist.
Dabei haben wir allen Grund, auch diesen Anachronismus in unserem Leben zu feiern. Weil er eben gar keiner ist. Deshalb ganz konkret: Weiterküssen. Frühling genießen. Dankbar sein. Und beim Osterspaziergang quer durch the world outside your window ruhig dem lieben Gott mal ins Fenster schauen. Oder wahlweise den Menschen ins Herz. Es ist ohnehin dasselbe.
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