Ein paar der neugierigeren Kollegen der schreibenden Zunft sind ja ausgeschwärmt in den letzten Monaten – die einen ins Trump-Land, die anderen in die alten englischen Industrie-Regionen, wieder andere ins ostdeutsche AfD-Land. Fast immer stießen sie auf eine Stimmung, wie sie in überfüllten Wartezimmern herrschen muss, wenn sich seit Stunden die Tür zum Sprechzimmer nicht geöffnet hat.

Ist überhaupt noch ein Arzt im Haus? – Oder wie wäre es mit Robert Merles beklemmender Entführung in „Madrapour“? Der eben noch auf ein Ziel zureisende Mensch gefangen in einer völlig undurchschaubaren Situation des Entführtseins, des Wartens, des zum Untätigsein-Verdammtseins?

Vielleicht geht es Ihnen anders. Aber die meisten Menschen, die ich kenne, halten das nicht aus. Sie werden wahnsinnig in Situationen, in denen sie auf etwas warten müssen, ohne zu wissen, wann diese Situation des Nicht-Handeln-Könnens endet.

Und trotzdem bauen wir immer neue solcher Warte-Höllen, egal, ob es Warteräume in Ämtern sind, Warteflure in Jobcentern, Wartezimmer in Arztpraxen, Flughafenterminals („Lost in translation“) sind … und nicht nur Räume, die das Warten zur Inszenierung der Vorhölle machen, sondern auch Lebenssituationen, in denen das Warten zum Verwaltungsmodus geworden ist. Denn wenn Teile der Gesellschaft aus der Wahrnehmung der medialen und politischen Wirklichkeit geraten, dann verfallen sie in eine Art Dornröschenmodus. Alles hört auf, die Zeit steht still. Es nagt nur noch der Zahn der Zeit und irgendetwas geht im Leben der Bewohner dieser Region kaputt. Als hätte jemand den Stecker gezogen.

Das große Rennen findet anderswo statt. Der Kreislauf des Lebens gerät ins Stottern. Denn jedes Mal nach dem Schulende im Sommer gibt es dasselbe Bild: verfrachten die Eltern den Hausrat der Kinder in ein Auto, weil die Kinder ihre Ausbildung irgendwo anders in einer großen Stadt beginnen, wo noch was passiert.

Und dann kommen sie nicht wieder.

Die sächsischen Landschaften ähneln in dieser Beziehungen den amerikanischen und englischen und polnischen. Wobei es noch viel schlimmer ist, wenn die Kinder nicht weggehen, sondern dableiben, weil sie auch in der Fremde keine Hoffnung sehen, irgendetwas Aufregendes aus ihrem Leben machen zu können.

Denn der Kreislauf des Lebens funktioniert ja nur, wenn die Kinder in der Gewissheit aufwachsen, dass ein Leben voller Aufregung, Abenteuer und Herausforderungen auf sie zukommt. Es gibt nichts Anderes, was Leben wirklich interessant macht. Das von der Werbung so gern plakativ verwendete Bild der glücklichen Familie im selbst erworbenen Eigenheim mit rasierten Rasen hinterm Haus ist eine Lüge. Nicht mal eine überzeugende. Sondern nur eine leere, eine von Schmalspurverkäufern für Schmalspurträumer zusammengeschusterte Lüge.

Die, wie man weiß, für Zehntausende amerikanischer Käufer von ihnen aufgeschwatzten Eigenheimen schiefgegangen ist. Als sie ihre Raten nicht mehr bezahlen konnten, begann die Subprime-Krise. Und ihre Raten konnten sie nicht mehr abzahlen, weil sie nicht mehr Herr ihrer eigenen Lebensgestaltung waren. Ihre Jobs waren von kühl kalkulierenden Planern wegrationalisiert worden, vielleicht nach China ausgelagert. Vielleicht auch nicht. Gewiss war nur, dass irgendwie „Arbeit zu teuer“ geworden war in ihrer Gegend.

War sie das wirklich? Oder hatte nur jemand befunden, dass Menschen und ihr Lebensinhalt nicht so wichtig sind, dass man sie einfach abklemmen kann, abschneiden von ihrem Traum auf ein selbstbestimmtes Leben?

Wo landen sie dann?

Ganz sicher in einer Dauerschleife des Wartens: auf neue Jobs, auf Bescheide vom Amt, auf den Gerichtsvollzieher, der ihnen ihr Haus unterm Hintern wegpfändet, auf den Bus, der nicht kommt, auf den Wahlkampfbus des Politikers, der aller vier Jahre mal vorbeischneit … Es ist ein schreiender Widerspruch zwischen dem, was ihnen die moderne Technik suggeriert („Alles ist möglich! Sofort!“), und dem, was sie wirklich bewirken können für ihr Leben („Bitte warten!“).

Zwischen dem, was ihnen das Fernsehen suggeriert, und dem, was in ihrem Leben tatsächlich möglich ist, klafft ein riesiger Abgrund. Meistens sind sie für den zermürbenden Job, den sie noch haben, täglich stundenlang unterwegs, stehen in Staus oder fahren über endlose Landstraßen. Und am Ende bleibt doch nicht mehr Geld übrig, um den Schleifen zu entkommen.

Ein Leben im permanenten Wartemodus.

Aber worauf nur?

Das ist die Frage, die gerade den Humus unserer Gesellschaft zum Qualmen bringt und wo die so gern kritisierten „Populisten“ ihre Stimmen holen. Es ist die große, wattige Leere, die  sie mit ihren wilden Geschichten füllen – und gleich noch versprechen, sie würden das ändern und den vom Warten Zermürbten wieder zum „Herrn im eigenen Haus“ machen.

Man kann nicht immer weiter Menschen aus den Produktionsprozessen eliminieren. Das ist zwar eine griffige Idee und die Narren im Silicon Valley sind gerade dabei, jeden, aber auch jeden menschlichen Arbeitsplatz überflüssig machen zu wollen. Und was dann?

Wer Arbeit immer nur als (teure) Last betrachtet und einfach ignoriert, dass Arbeit – und zwar gesellschaftlich anerkannte Arbeit – auch und wesentlich sinnstiftend für Menschen ist, der hat nichts begriffen. Man kann die Welt nicht mit Ingenieurtechnik retten oder gar den Menschen erlösen.

Wer den Menschen von aller Sinnstiftung erlöst, der zerstört ihn in Wirklichkeit. Der setzt ihn in einer Wüste der Sinnlosigkeit aus. Und man muss sich nicht unbedingt darüber wundern, dass sich das dann in seltsamen politischen Bewegungen manifestiert.

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/01/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar