Vor einigen Tagen saßen wir nach dem Kino noch in der Vodkaria herum. Draußen stellte das Wetter historisierend Hitlers Machtübernahme nach: Es war januarös unwirtlich, der abendliche Himmel schien sich in einer unsympathischen Unentschlossenheitsphase zwischen Eis- und Schneeregen zu befinden. Ich bestellte ein Glas Wein, der Herr ein Diesel und wir beide eine Art Suppe, wie sie nur die Vodkaria kann. Kurzum: Uns war behaglich zumute.

Unserem Glück allerdings war nur eine kurze Dauer beschieden: Am Nebentisch nämlich lärmte eine mittelmäßig alkoholisierte Frau mit weißer Schiebermütze, Leggings und leichtem Bauchansatz ihre Begleiter und uns ohne Unterlass voll. Natürlich blieb das dieser unbenommen, alles in Ordnung, sie nahm das Leben, wie es ihr gerade kam, es war ihr gutes Recht. Zumal wir uns in einer Kneipe befanden. Wir ließen sie also lärmen.

Leider aber führte die fröhliche Feierfrau mir nur einmal mehr meine Grenzen auf: Ich bin nur noch wenig imstande, Schrilles im Ohr auszuhalten. Schrille Stimmen, schrilles Gelächter. Es tut mir weh. Und ich weiß nicht mal, ob akustisch oder ästhetisch oder beides. Ich weiß aber, dass es mir leidtut. Weil ich die Mützenträgerin damit verunglimpfe. Weil meine eigene Schwäche mir verwehrte, den Mitmützenmenschen zu lieben, wie er eben war. Jesus, diese arme Socke, musste wirklich einen Job gehabt haben, der nicht ganz einfach zu bewältigen sein mochte. „Jesus? Was will sie denn hier mit Jesus?“, wird sich vielleicht manch rundum moderner, netflix-sozialisierter Zeitgenosse fragen, der trotzdem zwischendurch immer noch mal schnell analog aufs Klo muss.

Zu Recht fragt er. Vielleicht aber auch nicht: Denn so tief ist der Gedanken-Ganges dann doch nicht, wenn man sich im Jahr 2017 befindet, in welchem bekanntlich schamlos alles angeluthert wird, was bei „3“ nicht auf dem Baum des Merchandising-Waldes ist. Kurz: Wenn wir uns schon im Luther-Bett vergnügen, können wir ja auch ruhig mal übers Wasser gehen, bis wir bei Jesus ankommen. Ein Anachronismus? Ich glaube nicht.

Je mehr man über Jesus und das mit ihm verbundene Storytelling nachzusinnieren beginnt, desto weniger anachronistisch erscheint einem das alles. Obwohl es zunächst verwundern muss: Eine überlieferte Geschichte, in der jemand seltsam uneigennützig den ganzen Mist auf sich nimmt, den andere schon verzapft haben (und noch reichlich verzapfen werden), der nicht mal was aushandelt zu seinen Gunsten, obwohl wohl wissend, dass er die Grabstelle nur für drei Tage brauchen wird und nichts und niemandem etwas übel nimmt – … die scheint nicht das dringendste Desiderat dieser Tage zu sein.

Und doch sage ich: Sie ist es. Mehr denn je. Weil sie die Metapher schlechthin sein könnte, für unser augenblickliches Leben 2.0 oder 3.0 oder was auch immer ihr wollt. Weil Figuren dranhängen, die wir – auch heute noch – jeden Tag treffen.

Hat nicht fast jeder von uns zum Beispiel irgendwo einen Pontius Pilatus sitzen, dem gerade zur Maniküre eine Schale gereicht und Alarmierendes über uns mitgeteilt wird? Der uns aber desinteressiert – seiner gegenwärtigen Wellness-Eingebundenheit wegen – gelangweilt ans Messer liefert, vorher noch einmal seine Hände in der Marke „Unschuld“ badend? Hat nicht jeder irgendwo einen ungläubigen Thomas um sich herumschwirren, der erst gewillt ist, den Dingen Glauben zu schenken, wenn er mal konkret und in Farbe hingelangt hat …?

Um allein nur zwei Kollegen willkürlich herausgepickt zu haben aus dem großen biblischen Spässken …

Manchmal möchte man ein bisschen verzweifeln. Nicht unbedingt über den schwindenden Einfluss des lieben Gottes und dessen Bodenpersonals in unserer Gesellschaft im engeren Sinn, obwohl auch dies in vielen Fällen bedauerlich ist, sondern über die Tendenz, dass der Mitmensch nur noch in Spuren gewillt ist, darüber nachzudenken, dass es etwas geben könnte, das nach dem Entschlüsseln einer übertragenen Bedeutung auch für ihn wichtig ist, oder gar etwas, das größer als unser kleines Dasein ist.

„Wer Christus hat, hat genug“, soll Luther gesagt haben. „I just can’t get enough”, entgegneten nur wenig später Depeche Mode.

Man sieht: Wir haben allen Grund, Anachronismen in unserem Leben zu feiern. Obwohl oder gerade weil es sie vielleicht gar nicht gibt.

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