Das ist ein schönes Wort, klingt nach Expertentum, nach Managerdeutsch und all den leeren Blasen, mit denen Politik gern kaschiert, dass man beim Thema eigentlich keine Ahnung hat. Oder keine Lust darauf, Ahnung haben zu wollen. Sie ahnen es. Wir leben in einer Politik der Ahnungslosen. So was kommt von so was. Aber was hat das mit Expertise zu tun?

Eine Menge. Denn das Problem unserer Zeit sind nicht die Populisten, die Marktschreier und Alleinbesitzer aller Wahrheit. Das Problem ist unsere Expertengläubigkeit. Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da galt Staatskunst tatsächlich als eine Kunst, als eine besondere Begabung, Dinge möglich zu machen.

Vorbei?

Bestimmt nicht.

Aber das wichtigste Arbeitsorgan des Menschen ist sein Gehirn. Und das ist programmierbar. Man kann es zum kreativen Denken programmieren oder zur Denkverweigerung, zum sturen Abarbeiten und zum willfährigen Glauben. Menschliche Gehirne sind anfällig für Glauben. Auch wenn sie einmal ein Evolutionsvorteil waren, weil ihre frühen, noch affenähnlichen Besitzer neugierig waren und Dinge ausprobierten. Sie wollten wissen, wie das funktioniert. Das ist uns eingebaut. Und wer Kinder hat und sie beobachtet, bis sie sieben sind, der weiß, dass deren Leben immerfort mit Wissen-Wollen ausgefüllt ist. Sie sind von dem tiefsitzenden Drang beseelt, herauszufinden, wie die Welt ist und funktioniert.

Viele Eltern reagieren darauf falsch. Gerade dann, wenn sie es selbst nicht anders erlebt haben. Sie versuchen, die Kinder zum Schweigen und Stillsitzen und Nicht-Nerven zu erziehen. Das werden dann schon frühzeitig kleine Menschen, die ihren Frust, ihre Ratlosigkeit und ihre untersagte Neugier in sich hineinfressen. Ganz wörtlich. Sie sind die idealen Konsumenten: Sie stopfen alles in sich hinein, egal, was es ist. Hauptsache viel. Das haben sie dann gelernt: Dass man viel von allem haben muss, um überhaupt irgendetwas zu haben.

Dass dahinter ein unterdrückter Hunger nach Lebendigsein steckt – das wissen oft nur die Ärzte.

Warum dann der Schnitt bei 7 Jahren?

Weil diese kleinen Welteroberer dann in die Schule kommen, beschult werden. Und das oft auf eine sture Art, die ihnen das Neugierigsein nicht so brachial abgewöhnt, dafür systematisch. Es tut nicht so weh. Der Prozess ist schleichend, aber gründlich. Die Kinder werden daran gewöhnt, dass Lerneinheiten portioniert sind und kreatives Denken und Fragen eher unerwünscht, dass sie gut funktionieren müssen und das Wissen aus Bauklötzern besteht. Die meisten davon völlig überflüssig, angelernter Ballast. Für viele Kinder ist Schule auch nur: In-sich-Hineinstopfen.

Engagierte Lehrerinnen und Lehrer wissen das, was sie da den Kindern antun müssen. Dass für das Eigentliche viel zu wenige Lehrplanstunden eingeplant sind.

Das Eigentliche?

Ja.

Es nennt sich: Trainieren des Hirnmuskels.

Dazu gehört zum Beispiel das, was Forscher „kognitive Fähigkeiten“ nennen. Das ist das Trainingsbündel, das uns befähigt, Dinge zu erkennen. Uns selbst zum Beispiel. Nur wer gelernt hat, Dinge zu analysieren und in ihrem Wesen zu erkennen und zu begreifen, versteht auch, was um ihn herum in der Welt geschieht.

Sie merken es ja: Immer mehr scheinbar erwachsene Menschen laufen herum und „verstehen die Welt nicht mehr“.

Weil sie es nicht (mehr) gelernt haben. Weil das nicht Ziel ihrer Schulausbildung war. Weil sie irgendwann resigniert haben und nicht mehr mitgemacht haben. Denn Schule verwandelt sich nach den ersten Schultagen immer mehr in einen Prozess des Hineinstopfens. Vor 50 Jahren nannten das die frechen Selberdenker mal „Nürnberger Trichter“. Masse statt Profession. Die hungrigen Gehirne werden mit Fastfood vollgestopft – aber nicht herausgefordert, sich zu trainieren, ihre Fähigkeit zum Problemlösen zu trainieren, zum Voraus-Denken, zum Skeptischsein, zum Hinterfragen, zum Herauskämpfen aus der Unmündigkeit.

Immanuel Kant war kein Kognitionsforscher. Aber er sah das schon genauso: Ein Gehirn, dessen Träger es nicht souverän und professionell zu benutzen weiß, bleibt unmündig. Es wird nie erwachsen. Es bleibt anfällig für Bevormundung, Lüge, Fremdprogrammierung. Es rennt mit dem großen Haufen mit, wenn da vorn nur einer schreit: „Ich weiß, wo es langgeht.“

Das ist nicht erst seit Trump und Orban und Putin und Brexit so. Das ist schon eine Weile so. Die aktuelle Wut der kleinen Menge ist eine Frustration, ein tiefes Beleidigtsein. Man fühlt sich vom politischen „Establishment“ in die Irre geführt und traut ihm nicht mehr zu, das Dilemma zu lösen. Begreift sich auch selbst nicht als Teil des Problems, das eigene Handeln schon gar nicht. Und läuft dann lieber dem Schreihals hinterher, der behauptet, die Lösung zu kennen.

Aber diese Frustration konnte nur entstehen, weil der Glaube gewachsen ist, politische Fachleute würden schon wissen, was sie tun. Politik als Expertenmetier.

Nur dummerweise stellt sich dann, wenn diese Experten erklären sollen, warum sie etwas tun, meist heraus: Sie wissen es gar nicht. Sie haben keine Expertise.

Meistens haben sie Berge von „Expertisen“ auf ihren Schreibtischen liegen. Das, was wir heute als anschwellendes Phänomen bestellter Gutachten kennen. Peinlich genug, dass regierende Politiker so etwas an Experten delegieren. Die selbst oft nur Fachexperten sind und mehr als ihr kleines, eingehegtes Gebiet nicht überschauen. Das Ergebnis sind dann in der Regel bestellte Gutachten, die dem Besteller nur das bestätigen, was er selbst schon mutmaßt. Sonst hätte der wahrscheinlich einen anderen Experten beauftragt. Hinter dieser manifesten (und schweineteuren) Expertengläubigkeit steckt auch der Unwille, zu lernen, „wie die Dinge sind“.

Ihre Zusammenhänge, Abhängigkeiten, ihre Komplexität.

Unsere Welt war früher zwar genauso komplex. Aber das, was Menschen draus gemacht haben, war es nicht. Wir leben in hochkomplexen Gebilden, egal, ob es das Steuersystem ist, die Infrastruktur, das Gesundheitssystem, die EU, die NATO oder der Welthandel. Wer nur ein kleines Bauteil verändert, kann verheerende Folgen auslösen. Und wer das Denken über diese Systeme ändert, kann noch viel Schlimmeres anrichten.

Zum Beispiel das Denken über Wirtschaft, über Märkte. Die Versatzstücke dessen, was vor 35 Jahren langsam aber mit einer Menge Nachdruck ins politische Denken über Wirtschaft hineinsickerte, sind überall gegenwärtig. Selbst in der Bildungs- und Sozialpolitik.

Diese Versatzstücke wurden übernommen wie Mantras. Sie haben den Menschen aus dem Zentrum aller Politik verdrängt. Auch weil tiefgläubige Politiker glauben, dass er da gar nicht hingehört. Dass eine Gesellschaft eigentlich eine große Fabrik ist, die man immer produktiver machen muss.

Und das Erstaunliche ist: Man tut zwar gern so, als sei man nun nach 30 Jahren Kopfwäsche ein Experte im wirtschaftlichen Denken. Aber die Ratlosigkeit der etablierten Politik der Gegenwart spricht Bände: Man hat gar keine Expertise mehr. Und zwar im eigentlichen Sinn, als Kompetenz und Wissen über das, was man beschließt. Man springt nur noch von einer Modeerscheinung zur nächsten. Mal heißt sie Digitalisierung, mal Computerisierung, mal „Industrie 4.0“. Aber man überlässt das Nachdenken darüber, wie so etwas die gesamte Gesellschaft und auch das Wirtschaften verändert, lieber anderen. Irgendwelchen Experten. Die man zwar nicht beauftragt, die Dinge zu durchdenken, aber man versucht es selbst gar nicht erst.

Deswegen stehen sie so unersetzlich da. Als wäre es ein Naturereignis, über das man keine Macht hat.

Aber wer so die Dinge „über sich kommen lässt“, der sorgt auch dafür, dass Zukunft aus unserem Denken verschwindet.

„Wie konnte sich nur das Gefühl so weit verbreiten, dass es eine Alternative nicht geben kann, wieso können wir uns heute eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus?“, zitiert Gerrit Bartels in ihrem Nachruf auf Mark Fisher diesen so früh verstorbenen Kulturwissenschaftler.

Natürlich ist unsere Gesellschaft immer alles, auch Kultur. Und wenn wir aufhören, Wirklichkeit begreifen zu wollen, dann fehlt uns auch die Fähigkeit, Zukünfte zu denken. Plural bitte. Mündiges Denken ist die Fähigkeit, mögliche Zukünfte und ihre Folgen zu entwerfen. Mündige Politik ist eine Politik der Möglichkeiten.

Aber wenn man Politik nur noch „alternativlos“ denkt, bleibt da nichts mehr. Dann werden Menschen auf einen Pfad gezwungen, der keine Kreativität, keine Alternativen mehr zulässt. Dann entsteht in Schule und Gesellschaft „Null Bock“.

Das, was wir jetzt erleben, hat einen langen Vorlauf. Und die fatale Folge ist eine Politikergeneration, die in panischer Angst gefangen ist, in Alternativen zu denken. Und auch deshalb so erschrocken ist, als diesen gähnenden Leerraum auf einmal richtige Schmalspurdenker besetzten, die sich nicht einmal vorstellen können, wie fatal ihre Rettungsrezepte sind.

Wie kommt man aus der Denkfalle aber heraus? Aus dieser Expertengläubigkeit?

Indem wir Denken wieder zu einer Lust und Tugend machen. Und zu einer Sportart, die man früh lernen und ein Leben lang betreiben kann. Und wir überlassen es auch nicht den Experten, die uns jetzt das Heil in denkenden Maschinen versprechen. Maschinen können nur so klug werden wie ihre Programmierer. Bestenfalls. Und was ist, wenn die Programmierer menschlich dumm sind?

Ist dann die Kopie dieser Dummheit ein Segen für die Menschheit oder der Anfang einer wirklich schlimmen Katastrophe?

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