LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 38Lok trifft auf die BSG Chemie in einem Freundschaftsspiel und kein Polizeibeamter weit und breit. Unmöglich. Unmöglich? Gewalt hat mehr Farben, als so manche fast schon traditionelle Fanrivalität. Wie steht es mit vernachlässigten Senioren in all den Altenheimen der Stadt? Oder einem Streit, einer Demonstration, gar ein freundlich gemeinter Hinweis an den pöbelnden Herrn in der Bahn, bitte aufzuhören – und plötzlich eskaliert die Situation? Was ist es eigentlich, wenn zum Beispiel Mitarbeiter eines Jobcenters einem Menschen für ein Terminversäumnis die Existenzgrundlage entziehen? Und wer ist eigentlich so verrückt, Rettungskräfte während eines Einsatzes zu attackieren? Ein dreijähriges Projekt möchte den Ursachen von Gewalt in Leipzig auf den Grund gehen.

Solange Menschen existieren, gibt es verbale, körperliche und auch strukturelle Machtausübungen und Gewalt zur Durchsetzung von Interessen. Mancher Akt körperlicher Aggression erscheint vollkommen sinn- und ziellos, andere werden tagtäglich und bewusst vollzogen, viele davon leise und dennoch nicht minder einschneidend für das Opfer. Nach den Ursachen wird oft zu wenig gefragt, meist drehen sich die Debatten um Schuld und Sühne oder der Ruf nach mehr Sicherheit und Polizei ist nicht mehr weit.

Noch bis 2019 ist das Institut B3 mit diesen und mehr Fragen in Leipzig beschäftigt. Der Start war eine Auftaktkonferenz am 30.11.2016 im Zeitgeschichtlichen Forum, zu welcher über 60 verschiedene Teilnehmer von Polizei über Streetworker bis hin zu Stadtpolitikern, soziokulturellen Zentren und Medien kamen, um sich untereinander auszutauschen. Wohin das dreijährige Projekt steuert, verrieten Geschäftsführer Bernd Stracke und Projektleiterin Sara Schieferdecker in einem Interview mit der LZ.

LZ: Können Sie einem Menschen, der noch nie von B3 gehört hat, beschreiben, was Ihr Institut B3 macht?

Bernd Stracke: Das Institut B3 steht für Beratung, Begleitung und Bildung. Das sind tatsächlich die Dinge, die wir tun. Wir sind ein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kommunen, Verwaltungen, Vereine, Verbände und Initiativen zu begleiten und zu beraten. In der Hauptsache betrifft dies Situationen nach Vorfällen oder Ereignissen mit menschenfeindlichem Hintergrund. Wir organisieren aber auch Gesprächsrunden, Bürgerdialoge und vermitteln durch Mediation in ganz Sachsen.

Unser Vorgehen in der Arbeit ist dabei stets auf Augenhöhe mit den Partnern, wir versuchen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und Arbeiten vor Ort mit allen Partnern ressortübergreifend zusammen zu gestalten. Wir haben eine klare Haltung, bringen aber keine fertigen Lösungen mit, sondern erarbeiten Strategien und Handlungsoptionen gemeinsam vor Ort.

LZ: Welches Projekt ist in diesem Jahr in Leipzig gestartet und wie lange soll es laufen?

Sara Schieferdecker: In diesem Jahr haben wir ein völlig unabhängiges Projekt von unserer bisherigen Tätigkeit begonnen. Mit diesem Projekt widmen wir uns erstmals dem Thema „Urbane Gewalt“. Es handelt sich dabei um ein Einzelprojekt und es ist derzeit in dieser Form einzigartig. Wir sind bereits am 01.10.2016 gestartet und enden vorerst am 31.12.2019.

Bernd Stracke: Es ist für uns auch ein Stück Neuland. Auch hier bringen wir nicht die Lösungen, Ideen oder fertig formulierte Ziele mit. Wir werden uns bemühen, uns unklaren Begriffen zu nähern, stadttypische Phänomene zu entdecken, diese zu thematisieren und mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Die Methoden werden vielfältig sein. Über Interviews, Gesprächsrunden in den Stadtteilen hinaus, werden wir anregen, stadttypische Phänomene von Gewalt auch kulturell und soziokulturell zu thematisieren. Dabei sind Theaterstücke, Filme, Lyrik, Fotografie und alle denkbaren Kultursparten geeignet, Themen zu transportieren. Hierbei sind wir abhängig von den Partnern, die wir vor Ort finden, die sich dem Thema schon länger widmen und entsprechend Erfahrung mitbringen oder aufgeschlossen sind, neue Fragen zu stellen und neue Wege zu gehen.

Am Anfang stehen die wirklichen Ursachen, Gewaltfelder und viele Fragen. Foto: Dieter van Heesen
Am Anfang stehen die wirklichen Ursachen, Gewaltfelder und viele Fragen. Foto: Dieter van Heesen

LZ: Warum gerade Leipzig? Gibt es Gründe, dieses Projekt hier und nicht beispielsweise in Dresden oder Chemnitz zu machen?

Sara Schieferdecker: Leipzig ist eine Stadt die bevölkerungsmäßig nicht wächst, sondern explodiert. Sie befindet sich gerade in der Entwicklung, die es in westdeutschen Großstädten schon vor vielen Jahren gab. Wir sind ein sächsischer Verein und damit war für uns klar, dass das Projekt in Sachsen stattfindet. Von den drei großen Städten ist Leipzig nicht nur die größte Stadt, sondern auch die aus unserer Sicht vielfältigste. Davon abgesehen, fanden wir es gut, eine Stadt zu wählen, in der nicht unser Büro ist. Natürlich spielten bei der Wahl der Stadt auch die Vorfälle in diesem und letzten Jahr eine Rolle, aber diese waren nicht allein ausschlaggebend.

Bernd Stracke: Parallel zu Leipzig finden ähnliche Projekte auch in Frankfurt am Main, Hamburg und Berlin statt.

LZ: Am 30. November 2016 fand dazu im Zeitgeschichtlichen Forum eine Auftaktveranstaltung „Urbane Gewalt“ statt. Was war Ziel dieses Treffens und wer nahm daran teil?

Sara Schieferdecker: Als wir mit dem Projekt begonnen haben, haben wir ziemlich schnell festgestellt, dass wir nicht wissen, wie die „Urbane Gewalt“ konkret in Leipzig aussieht und nur eine Ahnung gehabt, wer alles Kooperationspartner sein könnte. Außerdem war uns noch nicht so ganz klar, wie wir an die Zielgruppen rankommen. Wir stellten außerdem fest, dass es eine enorme Vielfalt von Initiativen, Hilfsorganisationen, Bürgervereine usw. gibt. Wir kamen dann darauf, dass jeder Leipziger zu dem Thema etwas aus seiner Sicht sagen kann.

Also haben wir eine große Veranstaltung an den Beginn gestellt, bei der wir alle Interessenten kennenlernen können, die Beteiligten ihre Sicht mitteilen. Der Plan ging tatsächlich auf. Über Politiker, Stadtverwaltungsangestellte und Polizisten bis hin zu Vertretern von Soziokulturellen Zentren, Sozialarbeitern und Faninitiativen waren viele Interessengruppen vertreten.

LZ: Was nach unserer Beobachtung auffiel, war, dass es konkrete Zielvorgaben für das Gesamtprojekt eigentlich nicht gibt. Fangen wir vielleicht mal da an: Was ist eigentlich mit dem Begriff „Gewalt“ alles gemeint?

Sara Schieferdecker: Diese Frage würde ich gern an Sie zurückgeben und wenn ich Ihnen dann meine persönliche Definition von Gewalt gebe und wir diese beiden übereinanderlegen, wird es schon viele Unterschiede geben. Deshalb haben wir den Begriff nur grob eingegrenzt. Uns ist bewusst, dass der Begriff sehr weitreichend ist, gleichzeitig ist es uns wichtig, zu diesem Thema mit den Menschen, die es betrifft, zu sprechen und deren Verständnis von Gewalt aufzunehmen. Jede Zielgruppe sieht andere Aspekte von Gewalt. Bei der urbanen Gewalt geht es eben um städtetypische Gewalt.

Dazu kann ebenso die Schulhofschlägerei, wie auch die Ausschreitungen während Demonstrationen gehören. Wir bleiben bei dem Begriff weiterhin offen für Aspekte, die wir noch nicht beachtet haben. Denn unsere Welt ist derart komplex, dass dies eine einzelne Person gar nicht alles wissen kann.

Bernd Stracke Geschäftsführer B3 Institut. Foto: Dieter van Heesen
Bernd Stracke Geschäftsführer B3 Institut. Foto: Dieter van Heesen

Bernd Stracke: Auch das ist ein Feld, welches wir mit Betroffenen im Alltag des städtischen Lebens thematisieren wollen. Es gibt etliche verschiedene Definitionen von Gewalt, in der Soziologie, in den Verwaltungen, bei den Gerichten oder den Verfolgungsbehörden und in vielen Büchern. Aber wir möchten die Menschen im Alltag des städtischen Lebens dazu hören, Bewohner, Opfer, Täter, Ladenbesitzer, Kulturschaffende, Sportler, Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs, Journalisten etc. und dazu kreativ arbeiten. Dabei haben wir die Hoffnung, unter denen, die sich seit Jahren dem Themenbereich widmen, Partner zu finden.

LZ: Können Sie das generelle Vorgehen im Rahmen des 3-Jahres-Prozesses beschreiben?

Sara Schieferdecker: Natürlich, es ist ja nicht so, dass wir völlig planlos durch Leipzig laufen und warten, bis die „urbane Gewalt“ uns findet ;-). Das Projekt „Urbane Gewalt“ ist wie eine Reise ohne Navi und Landkarte. Das Ziel ist klar – es soll am Ende Handlungsempfehlungen zu dem Thema geben, die auf andere Großstädte übertragbar sind. Im ersten Schritt wollen wir unsere Partner und die Akteure kennenlernen und auch die Situation in Leipzig. Dann möchten wir mit genau diesen Akteuren, sowie den Zielgruppen, die im ersten Schritt sichtbar wurden, anfangen. In dieser Phase möchten wir uns zum Thema „Urbane Gewalt“ austauschen, wen wir außerdem noch brauchen und wie kommen wir dahin?

Wir möchten uns also einen Zugang verschaffen, um direkt im Anschluss ins Arbeiten zu kommen. Das soll dann nicht durch unsere Vorgaben erfolgen. Wir sind davon überzeugt, dass die Menschen vor Ort schon Ideen haben oder welche, mit unserer Unterstützung, entwickeln. Unabhängig davon haben wir die Vorstellung, dass dies durch Kleinprojekte, das Durchführen von Podiumsgesprächen und Bürgerdialogen realisierbar ist. Doch auch hier sind wir für neue Ideen offen. Im letzten Schritt möchten wir dann die einzelnen Gruppen, mit denen wir vorher gearbeitet haben, an einen Tisch bringen und für „Empathie“ unter den Gruppen sorgen. Dies wird aus der bisherigen Sicht der schwierigste Teil des Projekts.

Ich glaube, an dieser Stelle ist es auch noch wichtig, sich bewusst zu machen, dass es sich hier um ein Projekt handelt. Nichts muss, aber alles kann passieren.

LZ: Sollen am Ende eine Auswertung und Handlungsempfehlungen an die Stadt, den Freistaat oder Dritte stehen oder streben Sie im Verlauf der Zeit eher konkrete Impulse und Änderungen an?

Sara Schieferdecker: Die Handlungsempfehlungen sollen später auf andere Großstädte in Deutschland übertragbar sein. Davon werden also auch mittelbar die Stadt Leipzig und der Freistaat profitieren. Wir werden durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert. Die haben ein Recht auf die Handlungsempfehlungen. Wir sind uns aber sicher, dass die Stadt Leipzig durch das Projekt profitieren wird.

Sara Schieferdecker, Projekmanagerin "Urbane Gewalt" B3 Institut. Foto: Dieter van Heesen
Sara Schieferdecker, Projekmanagerin “Urbane Gewalt” B3 Institut. Foto: Dieter van Heesen

LZ: Wie wollen Sie das erreichen?

Sara Schieferdecker: Wie schon gesagt, wollen wir vor allem mit den Menschen vor Ort arbeiten. Unser Prinzip ist, dass das Problem vor Ort ist und damit auch die Lösung. Wir arbeiten systemisch und partizipativ. Das bedeutet, dass wir die Menschen, die etwas zu diesem Thema machen möchten, dabei unterstützen, ihre Ziele zu erreichen.

Bernd Stracke: Wir werden auf alle potentiellen Partner zugehen und einladen und hoffen dabei auf offene Türen, Anregungen und Hinweise. Wir werden uns regelmäßig mit der Universität Leipzig und den Kollegen in der Stadtverwaltung abstimmen und Ergebnisse und Erkenntnisse auswerten. Dabei ist eine regelmäßige Überprüfung des eingeschlagenen Wegs und der Methoden unerlässlich.

LZ: Gibt es nach den ersten Gesprächen und Erfahrungen mit einigen „Spielern“, also Institutionen in Leipzig, erste konkrete Ansätze für Projekte?

Sara Schieferdecker: Ja, die gibt es bereits. Wir haben uns vor dem Fachtag bereits dem Themenfeld „Gewalt gegen Einsatzkräfte“ gewidmet. In einem ersten Workshop wurde festgestellt, dass es noch keine Erfassung solcher Vorfälle gibt und dies sowie die Auswertung wird Teil des Projekts werden. Außerdem soll zu dem Thema sensibilisiert werden und zwar nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei den Einsatzkräften selbst. Wie das alles erfolgen wird, möchte ich jetzt noch nicht verraten.

LZ: Sehen Sie bereits „Dunkelfelder“ oder Gewalt-Bereiche über die zu wenig gesprochen wird?

Sara Schieferdecker: Ja, die sehen wir. Zum einen ist es tatsächlich die Gewalt gegen Einsatzkräfte von Feuerwehr und Rettungsdienst. Außerdem wird aus unserer Sicht auch die Gewalt gegen Journalisten wenig beachtet.

Bernd Stracke: Ich glaube die Dunkelfelder liegen auch für uns noch im Dunkeln. Spannend für mich sind besonders die Vorkommnisse „kollektiver Gewalt“ – wie kommt es dazu, was steckt dahinter? Aber auch Rechtfertigung von Gewalt ist spannend, gibt es solche? Was macht die Anonymität in solch einer riesigen Stadt und welche Rolle spielt sie bei den verschiedenen Phänomenen?

LZ: Versuchen wir es mal mit einem konkreten Beispiel. Halten Sie es für möglich, zum Beispiel die Gewalt gegen Sanitäter oder Feuerwehrleuten in Leipzig zu senken?

Sara Schieferdecker: Ob wir dies wirklich senken können, halte ich für fraglich, da wir noch nicht mal einen Ausgangspunkt dazu haben. Aber ich halte es für möglich, das Thema sichtbar zu machen und auf diesem Weg zu sensibilisieren. Außerdem halte ich es für möglich, durch Sensibilisierung und Training bereits konfliktgeladene Situationen nicht eskalieren zu lassen.

Bernd Stracke: Wir halten es für machbar, das Thema in den Fokus zu rücken und die Menschen zu Wort kommen zu lassen, die diese Erfahrungen machen. Ergebnisse können wir aber nicht vorwegnehmen.

LZ: Ist ein Freundschaftsspiel zwischen Lok Leipzig und der BSG Chemie ohne Polizeieinsatz denkbar?

Bernd Stracke: Es ist schon bezeichnend, dass nicht nach dem Erstligisten RB Leipzig gefragt wird.

Wenn es sich bei diesen beiden Vereinen um Rugbymannschaften handeln würde, dann würde ich nicht mal die Frage verstehen. Aber so traditionell die beiden Vereine sind, ist auch die gegenseitige Rivalität. Ich selber komme aus dem Norden von Leipzig und bin in dieser Frage auch nicht ganz neutral.

Kurzum, ich finde, es müsste immer möglich sein, ein Freundschaftsspiel ohne Polizeieinsatz stattfinden zu lassen. Es wäre fast schon eine Traumvorstellung. Im Moment noch Utopie, aber ja, ich glaube daran, dass es mal denkbar sein wird.

Weitere Informationen
www.institut-b3.de

Die aktuelle Leipziger Zeitung: Vom frustrierenden Glück einer Stadt, die sich immerfort neu erfinden muss

In der neuen Leipziger Zeitung gibt es 800 Jahre Rebellion, Reiberei und rücksichtslose Renovierungen

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar