„Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber ...“ – Haben Sie auch oft das Gefühl, dass Sätze, die so beginnen, der Garant fürs Bereitszunahegetretensein sind? Na bitte! Selten ist das gesellschaftliche Eis so dünn wie auf dem unruhigen See der Kritik. Die Ansichten der Menschheit über Sinn und Zweck des Kritisiert-Werdens liegen oft so weit auseinander wie die Haltung des Papstes und Uschi Obermeier zur freien Liebe. Wobei man beim Papst diesbezüglich kaum noch sicher sein kann. Haben wir doch den wunderbaren Franziskus. Aber ich schweife ab.

Offiziell wird Kritik ja immer wieder gern gefordert. „Ich habe nichts gegen Kritik, aber unbedingt konstruktiv muss sie sein“, hört man oft vom Mitmenschen und es klingt immer ein bisschen als habe er einen Werbeslogan verinnerlicht. So wie die Yogurette eben „unbedingt leicht“ sein musste. Mark Twain hat es wie immer schon viel eher gewusst: „Ich liebe Kritik, aber ich muss damit einverstanden sein“, soll er zusammengefasst haben. Ach Mark, mit dir sind wir immer einverstanden.

Aber mal im Ernst: Die Kunst der Urteilsbildung ist und bleibt eine der schwersten. Und nichts ist so widersinnig wie allgemeingültige Positionen über deren Notwendigkeit zu formulieren. Zwei Dinge müsste der Kritiker nämlich draufhaben: Er hat die Maßstäbe zu kennen, nach denen es zu urteilen gilt und – was viel wichtiger scheint – er sollte die Gefestigtkeit der Persönlichkeit des zu kritisierenden Gegenübers im Blick haben. Die Gefahr, andernfalls dessen innere Topgraphie mit der Dampfwalze platt zu fahren und auf diese Weise einen Menschen für immer vollumfänglich zu demotivieren, ist nämlich kaum zu unterschätzen.

Leider geschieht das nur allzu oft.

Deshalb halte ich die offenbar als modern und aufgeklärt wirkende allgemein hervorgebrachte Forderung nach Kritik für zumindest diskutabel. Während der eine tatsächlich daran wächst und sich weiterentwickelt, gedeiht in einem anderen durch unpassend aufgefasste Beurteilung möglicherweise ausschließlich Mutlosigkeit. Weiß man, wie viele ungehobene Talente auf Erden möglicherweise für immer verschüttet worden sind, weil irgendwer meinte, dieser oder jener müsse noch immer etwas besser machen?

Mir gefällt die Auffassung, dass Kritik die Kunst des Lobens sein könnte. Das fordert selbstverständlich auch den Kritiker, der eben nicht nur in der Materie bewandert sein, sondern auch feine Antennen für das Gegenüber besitzen sollte.

Wie schwer das schon im kleinsten Rahmen sein kann, zeigt sich bereits auf den fragilen Seilen, die sich durch eine Liebebeziehung spannen. Wir müssen ja nicht gleich von Fallstricken reden. Frauen, die mit Künstlern zusammenleben, können häufig ein Lied davon singen.

Schriftstellerbräute zum Beispiel wissen: Man sollte sich vorlesen lassen. Waches Interesse demonstrieren. Den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem der Autor endigt, um zu erschüttert zu sein, um bereits sprechen zu können. Seiner Bitte um Kritik AUF KEINEN FALL nachkommen! Höchstens mit einer Ehrfurcht, als habe man gerade ein Werk zu Ohren bekommen, das den „Faust II“ wie eine Hera-Lind-Schmonzette wirken ließe. Immer wieder verweise man auf die Originalität des Gehörten, auf das Neue. Einzelne Sätze als besonders erschütternd und im Gedächtnis bleibend preisen. Dem Werk eine Millionenauflage voraussagen. Oder zumindest anmerken, dass es diese verdient habe, wenn die Welt ein gerechter Ort wäre. Doch Vorsicht: Frauen, die so zu kritisieren verstehen, werden nicht selten downgegradet – zur Ehefrau.

Der Berufskritiker hat es natürlich ungleich schwerer. Selten genug leiten ihn schließlich zarte Bande der Verliebtheit zum Künstler. Er muss deshalb – auch aus Gründen der Professionalität – sachlichere und schärfere Geschütze auffahren, was seiner allgemeinen Beliebtheit natürlich oft nicht förderlich ist. Das kann durchaus auch einmal gefährlich werden, wie eine kleine Begebenheit im Leben Alfred Kerrs, dem wohl bedeutendsten Theaterkritiker des beginnenden 20. Jahrhunderts zeigt. Kerr hatte über eine überschaubar begabte Schauspielerin geschrieben: Diese habe sicher alle möglichen Talente, aber keines zum Schauspielern.

Bedauerlicherweise handelte es sich bei der dergestalt Kritisierten um die aktuelle Geliebte seines Vaters, der daraufhin – schwer erzürnt – zwei Männer bestellt haben soll, den Kritiker zu verprügeln. Als Kerr einmal im Grunewald spazieren ging, seien die beiden an ihn herangetreten, annoncierend, dass sie ihn nun zusammenzuschlagen wünschten. Als dieser erwiderte: „Aber das wollen Sie doch eigentlich gar nicht!“, habe man sich spontan zusammengeschlossen und sei ein Bier trinken gegangen.

Wie aber schafft man es nun, jemanden wirkungsvoll und unangestrengt zu kritisieren, ohne dabei das eigene Wohl aufs Spiel zu setzen? Darauf findet man bei George Bernard Shaw eine sehr schlüssige Antwort: „Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater.“

Bleibt am Ende lediglich zu fragen: Warum eigentlich nur im Theater?

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