Für alle LeipzigerEs bleibt auch nach diesem Jahr erst vor der Nikolaikirche und dann auf dem Augustusplatz bei einer schlichten Wahrheit. Leipzig bleibt anders. Friedlich, streitbar und klar in den Ansagen. Das „als“ kann man sich angesichts der Dresdner Zustände fast schon sparen, jeder Sachse und längst darüber hinaus weiß eigentlich: da ist etwas, das die Messestadt von Elbflorenz unterscheidet. Erst fanden sich an der Nikolaikirche „Leipzig nimmt Platz“ und weitere Initiativen ein, um sich wegen eines Aufrufes von Legida und GIDA regional wie eine schützende Wand vor den Eingang zu stellen. Und später folgten geradezu kämpferische proeuropäische Ansagen auf der großen Bühne am Augustusplatz. Besonders von einem heimlichen Kanzlerkandidaten der SPD.
So richtig Werbung hatte man irgendwie seitens der Stadt in diesem 27. Jubiläumsjahr der Wende nicht gemacht. 15.000 kamen dennoch, um eine Kerze zu entzünden und sich das Programm auf dem Augustusplatz anzuschauen. Und der Tage im Oktober 1989 zu gedenken – jeder mit seinen oft ganz eigenen Erinnerungen, die sich schon immer in der Wendestadt nicht zu einer kollektiven „Volk“smeinung zusammenfinden können. Und auch nicht wollen – das ganz eigene Erinnern an eine Zeitenwende im Leben Aller blieb auch dieses Mal angenehm individuell.
Dabei waren die aktuellen Vorzeichen für das diesjährige Lichtfest eher durchwachsen. Einen Tag vorher flog in Chemnitz ein bis heute flüchtiger Bombenbastler auf und sorgte für Furore, da er bei seiner Flucht derzeit durchaus Sprengstoff bei sich haben könnte. Auch wenn sich der Fahndungsschwerpunkt der Behörden in den Stunden danach nach Berlin verlagert zu haben scheint, war so ein gewisses Restgefühl von Angst auch in Leipzig vor der großen Menschenansammlung auf dem Augustusplatz vorhanden. Nichts geschah. (Nachtrag d. Red. Mittlerweile, am heutigen Montag, ist der Flüchtige Syrer von einem Landsmann in Leipzig Paunsdorf festgesetzt und der Polizei übergeben worden.)
Was sich auch ganz gut auf die Ergebnisse der Mobilisierungsversuche Legidas und GIDA regional übertragen ließe.
Maximal 10 bis 12 Personen standen letztlich verloren und von der Nikolaikirche deutlich getrennt durch Leipziger Initiativen in der Nikolaistraße stumm umher. Soweit erkennbar, fehlte auch Alexander Kurth (Die Rechte) – soviel also auch zum Wahrheitsgehalt von Facebook-Zustimmungen. Einige der Gekommenen forderten Frieden, andere die Neugründung der Märkischen Volkszeitung (eine ehemalige SPD-Zeitung, welche nach 1989 kurz wiederbelebt und dann eingestellt wurde). Später stand dann eine Gruppe auf dem Augustusplatz herum, die laut darüber sinnierte, wer der „Bewegung“ Legida in Leipzig so alles schon durch Angriffe auf Gegendemonstranten und Journalisten geschadet habe.
Wem „gehört“ 1989?
Und so gab es vor der Nikolaikirche nur ein weiteres Zeichen, wie sehr sich die islamfeindliche Bewegung in Leipzig im Vergleich zu Dresden längst totgelaufen hat. Auch am geschichtsträchtigen 9. Oktober – da, wo das nahende Ende der DDR durch den Mut vieler offensichtlich wurde – fehlte es denen, die sonst durchaus zahlreich erschienen, wenn es gegen Flüchtlinge ging, die Zeit zur Erinnerung.
Und ein erster deutlicher Unterschied zu den Vorkommnissen in Dresden, bei denen am 3. Oktober das Mutterbündnis Pegida an der Frauenkirche mehrere hundert pfeifende und pöbelnde Menschen auf die Beine bekommen hatte, wurde überdeutlich. Auch dadurch, dass es in Leipzig längst aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft heraus zu schnellen Reaktionen kommt, wenn Legida glaubt, sich neben nationalistischen Parolen und Panikmache noch das Erbe von 1989 unter den medialen Nagel reißen zu können.
Vielleicht ja einfach, weil die Wendegeschichte mit Leipzig, Plauen und Berlin und eben nicht mit der heutigen sächsischen Landeshauptstadt fest verbunden und erinnerlich ist? Geschichte lässt sich offenbar in Leipzig nicht so einfach klittern wie anderswo.
Verpufft an diesem 9. Oktober: Die Angst vor einem Anschlag ebenso, wie die Befürchtungen, es könnte zu einer Konfrontation vor der Nikolaikirche zwischen Legida, den Gästen und Besuchern des Gottesdienstes oder „Leipzig nimmt Platz“ und linken Aktivisten kommen. In der deutlichen Überzahl befindlich, gabs durch die Initiativen so etwas wie einen symbolischen Sicherheitsbereich für diejenigen Leipziger, die in langer Schlange in die Nikolaikirche drängten. Um die Predigt von Pastor Yassir Eric (Europäisches Institut für Migration, Integration und Islamthemen) und die Rede von Martin Schulz (SPD, Präsident des Europäischen Parlaments) zu hören.
Oder einfach nur eine Kerze anzuzünden – so wie 1989 – und sich der Angst, der Hoffnung und vielleicht auch mancher Enttäuschung danach zu erinnern. Und den Lehren zu gedenken, die man für sich selbst gezogen hat.
Euch gehört die Wende. Die Dankbarkeit eines „Westdeutschen“
Noch 2015 sah man nicht soviel buntes Gewimmel wie in diesem Jahr. Die 15.000 Besucher waren nochmals multikultureller, interessiert und weitab von neuem Nationalismus. Einen Eindruck von etwas mehr Dampf seitens Politikern gab es dann auch angesichts der zurückliegenden Ereignisse von Brexit über neue Rechte in Deutschland auf der Bühne.
Was Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung zu sagen hatte, darf man als Kontinuität hören: Keine Oberhand für neue Nazis in Leipzig, das Eintreten gegen diese erfordert immer wieder Mut, auch wenn es sich im privaten Bereich zeigt.
Die Ansprache von Burkhard Jung
Wirklich hängen bleiben dürften jedoch zwei andere Auftritte. Der scheidende Präsident des EU-Parlamentes Martin Schulz (SPD) nutzte die Gelegenheit, sich gegen den neuen Nationalismus in der EU zu wenden und vor allem, sich zu bedanken. Für das, was die Leipziger vor nun 27 Jahren getan haben und was es bis heute bedeuten könnte. Auch und gerade für die nächsten Wege Europas. Angesichts der Zustimmung im Publikum (bis auf einen lauten Einzelprotest) durchaus ein Fingerzeig auf die Ambitionen des Politikers, innerhalb der Sozialdemokraten in das Rennen um den Kanzlerkandidaten 2017 einzugreifen.
Die Ansprache von Martin Schulz
Ein Ausschnitt der Rede im Video
Apropos „laut“. Wenn nicht alles auf der Tonaufnahme täuscht, hatte sich seitens der Lautsprecher von Legida zumindestens einer eingefunden, um in seinem Namen (leider Unhörbares) von der Seite hineinzusprechen. Gegen halb Neun sah man dann den ehemaligen Pegida-Redner und Legida-Teilnehmer Stephane Simon mal wieder im Dauerdialog mit der Polizei. Es könnte sein, dass er es war, der sich mal wieder sehr viel Mühe gab.
Die Hinweise kultureller Natur gab es in diesem Jahr durch Sylvester Groth und den Text, den er, umringt vom Leipziger Ballet, dabei hatte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Was die Besucher, so sie wollten, auf sich selbst und das Motto des Lichtfestes 2016 zurückwarf.
Das Motto des Lichtfestes 2016: Mut – Werte – Veränderung
Ãœber die Werte wird in Leipzig weiter gestritten werden, eine Frage der Einzeldefinition wird es wohl bleiben. Die Veränderung kommt immer im Leben – ganz gleich ob man will oder nicht. Den Mut dazu haben die Leipziger immer wieder bewiesen und haben sich sehr oft nicht “bange machen lassen”. Mal sehen, wie sich das alles zum Lichtfest 2017 anfühlen wird.
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https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/01/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108
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Es gibt 3 Kommentare
Hallo Daniela,
da es dazu heute auch einige freundliche Mails mit der gleichen Bitte und auch Deinen Eintrag gab, tun wir das gern.
M.F.
Schaltet den Artikel doch bitte für alle frei.
Ich war sauer, dass in den Medien (z.B. Deutschlandfunk) behauptet wird Martin Schulz lobe die Ostdeutschen für ihre Anpassungsleistung, das würde ich mir verbitten, kommt aber in Eurer Originalaufnahme gar nicht vor. Für Mut zu Toleranz und Freiheit würde ich mich eher loben lassen wollen, wobei Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf.