In den letzten Tagen habe ich mehrfach verwirrt zurückgerechnet, aber es blieb dabei: 26 Jahre. Die Wiedervereinigung liegt 26 Jahre zurück, nicht 20, nicht 25, kein im Entferntesten runder Jahrestag steht an. Trotzdem wird pompös gefetet. Die Einheitsfeier in Dresden, die sich mir in ihrer geplanten Monstrosität nicht erschließt und an die man – trotz zahlreicher unguter Vorzeichen – irgendwie keinerlei Luft zu lassen gewillt war, wirkt ein bisschen wie ein Lehrstück über das ausgeprägteste deutsche Talent: Wenn schon feiern, dann gefälligst diszipliniert und verbissen.

Man will ja nicht ausgeprägt negativ wirken, aber mich überfordern diese Ausmaße der Erinnerung an die Ereignisse vor 26 Jahren. Mein Gefühlsleben ist dafür nicht ausgelegt. Hinzu kommen diese kleinen bohrenden Gedanken, dass es vielfach die falschen Leute sind, die sich dieser Erinnerungskultur annehmen, die Wiedervereinigung zu einem Marketingevent hochprügeln.

Mir ist, als habe im Herbst 1989 ein unschuldiges, junges Mädchen etwas Mutiges, etwas Wichtiges gesagt und uns ist nichts anderes eingefallen, als sie Jahr für Jahr wie eine Hure mit sehr viel greller, bunter Schminke und unaufrichtigen Verehrern der Welt zur Betrachtung hinzuwerfen. Im gleißenden Lichte. Da kann man die Tinnitushymne der Scorpions noch so laut spielen, die Fassade bröckelt doch gerade gehörig, oder?

Erinnere ich mich eben allein: Wie war das denn damals vor 26 Jahren? Als Helmut Kohl im Februar 1990 auf dem Erfurter Domplatz ausgestellt wurde zum Beispiel? Ich weiß noch schemenhaft, wie sich eine Menschenmasse vom Fischmarkt in Richtung Domplatz gekämpft hatte. Viele trugen Transparente mit sich: Pro Deutsche Einheit, pro D-Mark, pro Kanzler.

Einige wenige stellen sich ostentativ gegen Kohl, gegen die CDU und für einen eigenständigen Weg der DDR. Ein Mikro lobte laut und blechern die Stadt Erfurt.

Wenn man sich die Menschenmenge zurückholt in Gedanken, kann man sich eines liebevollen Lächelns nicht erwehren: Wind- und Jeansjacken im Februar statt Mäntel, alle irgendwie moonwashed im Gefühl, die Frauen mit etwas zu grünem oder metallic blauen Lidstrich, Kaltwelle im Haar, noch nicht im Blick. Männer mit Oberlippenbärten, keine Magnums, noch nicht mal als Eis. Und alle standen wir da und schauten auf Figuren vor dem Dom, die wir nur aus dem Westfernsehen kannten. Ich – wie immer unzureichend gegen Kälte gewandet – fröstelte in der recht milden Winternachmittags-Sonne oder war es des seltsamen Konglomerats wegen, das Linke und alte SEDler zu geben wussten? Die hier scheinbar geschlossen gegen den Bundeskanzler demonstrieren: „Helmut Kohl, geh wieder heim, seif deine eignen Leute ein!“.

Ich war voll jugendlicher Abscheu gegen die alten Parteibonzen, und fand es ungehörig, dass sie hier nun auftrumpften gegen den einzigen, der einen genauen Fahrplan zu haben schien in dieser Zeit des „Nicht mehr hier, aber auch noch nicht dort Seins“. Ich bete manchmal, dieses Törichtsein sei inzwischen verjährt.

Die Zeit atmete Aufregung damals. Wenn man so will, war sie eine mehrmonatige Erektion. Eine Erektion ist jedoch kein angenehmer Dauerzustand, wie wir wissen. Irgendwann wurde vollzogen. Alle Teilnehmer fast apathisch zurücklassend.

Die postkoitale Phase allerdings dauert nun schon ganz schön lange: Man sitzt befriedigt im von philanthropischen Investoren aufwendig sanierten Gründerzeithaus. Wir trinken Yogi-Tee und Bio-Limonade, mittags können wir in wenigen hundert Metern Entfernung chinesisch, italienisch, japanisch, Vollwert-Bio oder deftig thüringisch, sächsisch oder gar pfälzisch essen gehen. Wir können am Kiosk unter Hunderten von Zeitschriften-Titeln auswählen, müssen weder die BRIGITTE noch PARTNER PFERD oder RICHTIG DICKE DINGER mehr unter der Jacke nach Hause tragen.

Das ist alles nicht zu tadeln, doch vielleicht sollten wir doch mal wieder miteinander ins Bett. Zurück auf Anfang. Um uns auf der Bettkante noch einmal klarzumachen, dass all diese Privilegien Zufallszustände sind, dass das Hiergeborenwordensein kein Verdienst und Solidarität keine Einbahnstraße ist.

Dann kann man es mit der Vereinigung sicher noch einmal versuchen.

Erlaubt ist diesmal allerdings nur, was BEIDEN gefällt.

Mir wird schon ganz anders …

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